»Nun, ich gestehe, ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll. Ich bin verwirrt. Wahrscheinlich stehe ich noch unter dem Einfluss des Geschehens an der Barriere«, sagte sie. Die Präfektin faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich vor.
»Was ich jetzt sagen werde, darf diesen Raum nicht verlassen.«
»Selbstverständlich, Präfektin«, versicherte Pais.
»Gut. Ich befürchte, dass die Gefahr durch den sogenannten Dunkelträumer nicht gebannt ist. Der Transzendente wurde besiegt, aber seine Macht wurde von den Wesen, die Antilius als Späher bezeichnet hat, in Besitz genommen.
Wie wir durch seine Schilderungen nun wissen, braucht der Dunkelträumer einen Transzendenten, um in unsere Welt vorzudringen. Und solange die Macht der Transzendenz noch existiert, solange wird der Dunkelträumer nicht müde werden, seine Pläne in die Tat umzusetzen und auf einen neuen Transzendenten zu warten, der ihn nach Thalantia holt.«
»Was wisst Ihr über den Dunkelträumer? Was ist vor tausend Jahren hier auf Thalantia geschehen?«, fragte Antilius gespannt.
»Das würde mich auch interessieren«, sagte Pais. »Es wundert mich sehr, dass es überhaupt jemanden gibt, der etwas über diese Dinge aus der fernen Vergangenheit weiß. Ich kenne jedenfalls niemanden, der jemals etwas von einem Dunkelträumer gehört hätte.«
»Aus gutem Grund«, erwiderte die Präfektin bestimmt. »Aus gutem Grund, Herr Ismendahl. Was sich vor über zehn Jahrhunderten auf Thalantia ereignet hat, sollte in Vergessenheit geraten, damit es sich nicht wiederholt.
Ich bin eine von sehr wenigen, die noch Kenntnisse über jene ferne Vergangenheit hat. Das meiste davon stammt aus mündlichen Überlieferungen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Aber es gibt auch noch ein paar Artefakte, die wir verwahrt haben.«
Pais, der sich die ganze Zeit über an seinem bärtigen Kinn gekratzt hatte, hielt inne und schaute die Präfektin überrascht an: »Ihr seid noch im Besitz von Gegenständen, die etwas über die Vergangenheit Thalantias erzählen könnten?«
»Ganz recht.«
»Das ist ja dreist!«, fuhr Pais lauthals fort. »Mit welchem Recht haltet Ihr dieses Wissen unter Verschluss? Wissen, das etwas darüber aussagt, wer unsere Vorfahren waren, und wie sie gelebt haben.«
»Ich dachte, das hätte ich eben erklärt. Weil es zu gefährlich ist«, antwortete die Präfektin ruhig, aber entschlossen.
Pais schnaufte verächtlich. »Eure Geheimhaltung hat beinahe zu einer Katastrophe geführt, weil keiner wusste, was vor sich ging, als Koros zum Transzendenten wurde. Wenn Antilius, durch welchen Zufall auch immer, nicht nach Truchten gekommen wäre, dann würde es uns alle nicht mehr geben. Ist Euch das klar?«
»Ich mache mir keine Gedanken über das, was gewesen sein könnte, sondern über das, was sein wird«, erwiderte die Präfektin jetzt in einem schärferen Ton. »Die Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen, geschah in guter Absicht. Vielleicht war es im Nachhinein betrachtet keine weise Entscheidung, aber es war die beste, die unseren Vorfahren zur Verfügung stand. Unsere Vorfahren waren es, die Thalantia vor der Vernichtung bewahrt haben, und nun ist es an uns, ihr Erbe fortzuführen. Nun liegt das Schicksal Thalantias in unseren Händen.«
»So sagt uns doch jetzt endlich, was damals geschehen ist!«, rief Haif. Er hielt es einfach nicht länger aus, auf die Folter gespannt zu werden und zappelte auf seinem Stuhl hin und her.
»Ja, sprecht es endlich aus«, stimmte Gilbert aus dem Spiegel zu.
Die Präfektin sah kurz zu Antilius. Er saß mit gesenktem Kopf da, der Herausforderungen harrend, die ihre nächsten Worte enthüllen würden.
Sie erhob sich von ihrem Platz, ging zum Kamin und richtete ihren Blick auf das lodernde Feuer.
»Vorab sei gesagt, dass mein Wissen nur sehr lückenhaft ist. So vieles, das an jene Zeit erinnern könnte, wurde zerstört, sodass es beinahe einem Wunder gleicht, dass wir überhaupt die Ereignisse grob rekonstruieren können. Das, was wir auf den Ahnenländern heute wissen, stammt aus Überlieferungen, die einer kleinen Gruppe entstammen. Diese Gruppe hatte damals entschieden, ihr Wissen nur innerhalb ihrer Organisation mündlich an die nachfolgenden Generationen zu überliefern. Aus diesem Grunde ist viel von dem Ursprungswissen mit den Jahrhunderten verloren gegangen«, sagte sie leise. »Vor etwas mehr als tausend Jahren, da tobte ein schrecklicher Krieg auf Thalantia. Viele denken heute, dass die damaligen einflussreichen und erfinderischen Königreiche diesen Krieg gegeneinander geführt haben. Und man glaubt, dass dieser Krieg alles vernichtet hat, weshalb es aus dieser Zeit keine Aufzeichnungen mehr gibt. Aber das ist nicht wahr. Im Gegenteil: Unsere Vorfahren kämpften vereint, Seite an Seite. Doch kämpften sie gegen Mächte, denen sie trotz ihrer fortschrittlichen Errungenschaften nichts entgegenzusetzen hatten.
Ihr müsst wissen, dass unsere Vorfahren zu jener Zeit regelrecht besessen davon waren, Maschinen zu bauen und sich die geheimnisvollen Energiequellen Thalantias zunutze zu machen. Einige wenige Relikte existieren auch heute noch, wie die Schienenbahn, die Ihr selber schon benutzt habt. Jene Technologie war so weit fortgeschritten, dass man sie bis heute nicht einmal im Ansatz nachbauen könnte.
Aber das, was Thalantia heimsuchte, war mit keiner Maschine der Welt zu bekämpfen.«
»Und was soll das gewesen sein?«, fragte Pais.
»Es waren Wesen in unsere Welt eingefallen, die von irgendwoher außerhalb von Thalantia kamen. Sie alle waren gekommen, um eine Kraft an sich zu reißen, die im ganzen Universum einmalig ist.«
»Sie meinen doch nicht etwa, Außerirdische wären hierhergekommen? Entschuldigt bitte, aber das kann unmöglich Euer Ernst sein«, sagte Pais zweifelnd.
»Ich weiß selber nicht, wie man sie bezeichnen soll. Die Überlieferungen sind hier nicht eindeutig. Es sollen Wesen darunter gewesen sein, die ähnlich wie der Transzendente über Fähigkeiten verfügten, die wir wohl nie begreifen können. Wesen, die nicht nur von fremden Welten, sondern auch aus anderen Realitäten, aus Parallelwelten oder auch aus anderen Dimensionen entstammten.«
»Das klingt ziemlich verrückt«, sagte Pais. »Ich will ja gar nicht leugnen, dass es solche Wesen gegeben hat oder noch geben mag, aber warum sollten sie plötzlich über unsere kleine, unscheinbare Welt hergefallen sein? Was soll das für eine besondere Kraft sein, um die sie gekämpft haben?«
»Sie waren hier wegen Ilbétha. Sie war der Grund«, sagte Antilius plötzlich, der sich die ganze Zeit über still zurückgehalten hatte.
»So ist es«, bestätigte die Präfektin.
»Moment mal! Da komme ich nicht mit,« fiel Haif ein. »Wer soll diese Ilbétha sein? Was ist das überhaupt für ein komischer Name?«
»Leider kann ich diese Frage nicht beantworten. Niemand hat nach dem Krieg herausfinden können, wer oder was Ilbétha war und woher sie gekommen ist. Wir wissen nur, dass sie der Grund für den Krieg war. Sie erschien plötzlich auf unserer Welt. Irgendetwas an ihr muss so wertvoll gewesen sein, dass es eine kriegerische Auseinandersetzung rechtfertigte.
In einem Schriftstück, das wir besitzen, wird Ilbétha als die höchste Kraft im Universum beschrieben, auch wenn wir die Herkunft dieser Schrift nicht eindeutig nachvollziehen können.
Der Name Ilbétha setzt sich, soviel wir heute wissen, aus zwei Wortteilen zusammen. Das eine Wort Il bedeutet Insel. Und Bétha kann übersetzt werden als Unendlichkeit oder Unerreichbarkeit. Das ist ja auch der Name der Vierten Inselwelt. Man vermutete auch, es könnte grenzenlos oder unsterblich bedeuten. Wir wissen es einfach nicht genau«, sagte die Präfektin, während sie wieder zu ihrem Stuhl ging und sich setzte.
»Die feindlichen Invasoren wollten also Ilbétha für sich beanspruchen. Welche Rolle spielten dabei Thalantias Königshäuser? Hatten sie gegen die Invasoren um Ilbétha gekämpft? Wussten sie überhaupt, womit sie es zu tun hatten?«, fragte Pais.
»Wir glauben, dass man auf Thalantia