Es war Bestimmung.
Die Erinnerungen, die ihn einst verlassen hatten und die, ohne sich umzusehen, durch das All getrieben waren; sie machten kehrt. Und kamen zurück. Und das Unglaubliche nahm seinen Anfang:
Der Dunkelträumer erwachte aus seinem jahrhundertelangen Schlaf und begann, sich wieder zu erinnern.
Teil II: Das Herz von Xali - Prolog
Verlassen in der Kälte und der ewigen Finsternis, weit entfernt vom Licht und Staub der Sterne, harrte der Dunkelträumer an einem Ort aus, von dem man einst glaubte, er würde ihn nie wieder verlassen können.
Diejenigen, die ihn in seine eisige Verbannung geschickt hatten, waren schon seit vielen Jahrhunderten tot. Und beinahe wäre ihr Plan aufgegangen: Mit der Unsterblichkeit versehen, gab es kein Mittel, den Dunkelträumer zu vernichten, also wurde beschlossen, ihn in die Ferne zu verbannen, an den Rand des Universums. Dort sollte er ewig schlafen.
Fast tausend Jahre lang schlief der Dunkelträumer. Und er träumte. Er träumte von seiner Zeit auf Thalantia und von dem großen Krieg, in dem er einst gekämpft hatte. Und er träumte von dem Verrat, der an ihm begangen wurde. Doch mit den Jahrhunderten verblassten die Träume, und die Erinnerungen schwanden beinahe vollends. Die Hoffnung der Verschwörer, der Dunkelträumer würde alles vergessen und für alle Zeiten in der Einsamkeit vor sich hindämmern, schien sich zu erfüllen.
Aber nichts währt wirklich ewig. Was vor tausend Jahren auf Thalantia geschah, war so gewaltig und einzigartig, dass es nicht vergessen werden konnte. In jenen schweren Tagen der einst so unbekümmerten und friedvollen Welt wurden Kräfte freigesetzt, deren Macht bis heute nicht erloschen ist. Kräfte, deren Macht nun im Verborgenen ruht und darauf wartet, wiedererweckt zu werden. Das wusste der Dunkelträumer. Diese Gewissheit bewahrte ihn vor dem Wahnsinn. Und sein unbändiger Wille, eines fernen Tages nach Thalantia zurückzukehren und sich für den Verrat zu rächen, bewahrte ihn vor dem endgültigen Vergessen.
Obwohl er einsam war, war der Dunkelträumer nicht allein. Sein wichtigster Verbündeter hatte ihn nie vergessen und arbeitete jeden Tag unermüdlich daran, ihn nach Thalantia zurückzuholen. Es war das Flüsternde Buch, das einen eigenen Willen besaß. Das Buch hatte nach einem ersten missglückten Versuch einen neuen Transzendenten für ihn erwählt, der ihm den Übergang von seinem Verbannungsort zurück nach Thalantia ermöglichen sollte. Doch der neue Transzendente, der zuvor unter dem Namen Koros Cusuar ein machthungriges und einfältiges Leben geführt hatte, war nicht geeignet für diese Aufgabe.
Das Flüsternde Buch hatte so lange nach einem geeigneten Kandidaten gesucht, dass es überzeugt davon war, dieses Mal den Richtigen gefunden zu haben. Aber es hatte sich geirrt. Wieder einmal. Und so geschah es, dass die körperlosen Wesen, die unter den Bewohnern Thalantias als die Späher bekannt sind, dem mit der Macht des Transzendenten überforderten Koros eben jene Macht wieder entzogen.
Die Späher waren einst die treuen Adepten des Dunkelträumers gewesen, damals, als sie noch eine körperliche Gestalt besaßen. Genauso wie viele andere rätselhafte Wesen auch, führten die Späher ein Leben im Verborgenen. Irgendwo zwischen der Zeit und der Antizeit. Denn dies war ihre einzigartige Begabung. Sie vermochten zwar nicht die Zeit zu beherrschen, doch wussten sie, sie für sich zu nutzen. Die Späher waren es nun, welche die Macht der Transzendenz zwischen Zeit und Antizeit bewahrten. Nur so konnten sie sicherstellen, dass die Macht unversehrt überdauern konnte, bis zu jenem ersehnten Tage, an dem ein neuer Transzendenter gefunden war, der den Dunkelträumer zurückholen würde und den Spähern ihre Sterblichkeit wiedergeben würde.
Das Scheitern des letzten Versuchs, einen würdigen Transzendenten zu erschaffen, lastete schwer auf ihnen. Alle Hoffnung lag nun auf dem Flüsternden Buch. Jenes Buch hatte schon eine lange Reise hinter sich. In unzähligen Händen wurde es über Jahrhunderte hinweg gehalten, wobei es stets auf der Suche nach einem neuen Wirt für die Macht der Transzendenz war. Doch gelang es ihm bis heute nicht, den Richtigen zu finden.
Das Flüsternde Buch enthielt das gesammelte Wissen seit jener Zeit, zu welcher der Dunkelträumer verbannt wurde. Orte, Namen und Ereignisse der vergangenen Jahrhunderte waren in diesem Buch enthalten. Es wusste um den Verrat am Dunkelträumer, und so wie die Späher auch, hatte das Flüsternde Buch es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dem Dunkelträumer seine zerstörerische Vergeltung zu ermöglichen, denn der Verrat reichte so tief, dass der Wunsch nach Rache zur Obsession wurde.
Auch wenn die letzte Inkarnation des Transzendenten ein Fehlschlag war, so gab es doch einen Erfolg, der dem Flüsternden Buch Hoffnung machte, sein Werk vollenden zu können: Als sich am Fuße des Adler-Gebirges in den Ahnenländern das Dimensionstor öffnete, erwachte der Dunkelträumer erstmals aus seinem tausendjährigen Schlaf. Das hatte das Flüsternde Buch bei all seinen Versuchen zuvor nicht vollbracht.
Den ersten Transzendenten, den es vor langer Zeit erschaffen hatte, ereilte der Tod, da es zu jener Zeit einen Geheimbund gab, der noch Kenntnis vom Dunkelträumer hatte und seine Rückkehr um jeden Preis verhindern wollte. So geschah es, dass die Macht der Transzendenz durch den Geheimbund in ein Dimensionstor eingesperrt und sein Wirt getötet wurde. Die Späher hatten damals keinen Zugang mehr zur Transzendenz. Erst jetzt, als die Macht durch Koros unter Anleitung des Flüsternden Buches aus dem Tor befreit worden war, brachten die Späher sie wieder unter ihre Kontrolle.
Die Rückkehr des Dunkelträumers war zwar gescheitert, aber er war jetzt erwacht. Das Ziel schien so nahe wie nie zuvor. Seine Erinnerungen waren alle zurück. Und obwohl oder gerade weil jede einzelne dieser Erinnerungen an sein früheres Leben auf Thalantia so unendlich schmerzhaft war, war die Begierde nach seiner Rückkehr überragend.
Aber trotz seiner Erweckung war er weiterhin zur Untätigkeit verdammt. Das Flüsternde Buch und die Späher waren die Einzigen, die seine Rückkehr noch ermöglichen konnten.
Dennoch spürte der Dunkelträumer, dass auf Thalantia Dinge ins Rollen gebracht wurden, die ihm in die Hände spielen würden. Zu dieser Einschätzung gelangte er, als er für einen kurzen Moment einen Blick durch den Dimensionstunnel erhaschen konnte, unmittelbar nach seiner Erweckung, während auf Thalantia die Macht der Transzendenz befreit worden war. Dort sah er zwei leuchtende Augen, die dem Dunkelträumer sehr vertraut waren.
Zwei Augen, die zu jemandem gehörten, der Antilius genannt wurde.
Das Buch des Vaters
»Grabt!«, befahl Ancrus ungeduldig.
Er stand an einen großen Findling gelehnt und versuchte, sein rechtes Bein zu entlasten. Es hatte ihm schon früher nach längerem Gehen Schmerzen bereitet, doch heute war es besonders schlimm. Nur durfte er es sich vor den anderen Gorgens nicht anmerken lassen. Ganz besonders heute nicht.
»Warum dauert das so lange? Macht schneller!«, rief er.
Ancrus wusste zwar, dass die sieben Gorgens, die unter seinem Befehl emsig schaufelten, nicht noch schneller arbeiten konnten, aber er wollte sie ständig auf Trab halten, damit sie keine Gelegenheit bekamen, innezuhalten und den Erfolg ihrer geheimen Mission infrage zu stellen oder sich der Gefahr, der sie sich aussetzten, bewusst zu werden.
Ancrus selbst half ihnen nicht beim Graben. Dafür war er zu alt, und außerdem hatte er das Kommando. Er sagte den anderen, was zu tun sei, und dafür waren die Gorgens dankbar, denn das, was Ancrus ihnen versprach, war nicht weniger als eine Zukunft für ihr Volk.
Nach der großen Schlacht an der Barriere von Valheel vor ein paar Wochen drohte dem Volk der Gorgens der Untergang, dessen war sich Ancrus absolut sicher. Tausende von seinesgleichen fielen auf die falschen Versprechen des Despoten Koros Cusuar herein und stürzten sich in einen Kampf, in dem es nichts zu gewinnen gab. Der Großteil derer, die ihm gefolgt waren, fand den Tod. Und viele von denen, die überlebt hatten, weil sie dem Inferno noch rechtzeitig entfliehen konnten, kehrten nicht mehr nach Gorgonia, ihrer Heimat, zurück. Teils aus Scham, teils aus Selbstaufgabe.