Antilius erkannte die Stimme. Der andere im Wasser bemerkte die beiden Personen, die auf dem Hügel standen und ihn beobachteten. Er schaute zu ihnen hinauf.
Antilius traute seinen Augen nicht, wer ihn in diesem Moment von da unten ansah.
Aufgedreht suchte er eine Erklärung bei seiner Begleiterin, wobei er sie mit strahlenden Augen anschaute, aber kein Wort herausbringen konnte. Er brauchte die Frage nicht zu stellen. Sie gab ihm die Auflösung für das Wunder, das er nicht für möglich hielt.
»Hier in Verlorenend gibt es keine Gefängnisse«, sagte sie schlicht.
Unendliche Freude und Erleichterung überkamen ihn.
»Gilbert, ich bin es!«, schrie er aus Leibeskräften.
Gilbert winkte herauf. Der Meister durfte erleben, wie sein Freund den Zauber der Freiheit erleben durfte. Nach einer so langen Zeit der Gefangenschaft, deren Dauer er nur erahnen konnte, wurde es Gilbert ermöglicht, wieder das Gefühl der Freiheit zu spüren. Antilius wusste praktisch nichts über die Vergangenheit seines Freundes. Nicht einmal, wie er in den Spiegel gekommen war. Es war absurd, denn obwohl er bislang so wenig über ihn in Erfahrung bringen konnte, hatte er doch das Gefühl, einen guten alten Freund wiederzusehen.
Gilbert erkannte seinen Meister. Er stürmte in klatschnasser Garderobe auf ihn zu.
Schließlich standen sie sich gegenüber. Auge in Auge. Es gab kein Glas mehr, keine Wand, die sie trennte. Keine unterschiedlichen Proportionen. Antilius empfand es als ungewöhnlich, Gilbert plötzlich so groß zu sehen. Durch den Spiegel wirkte er immer klein und verletzlich. Gilbert erging es ähnlich, nur umgekehrt: Antilius war für ihn kleiner, als er es gewohnt gewesen war.
Sie umarmten sich.
»Du siehst gut aus«, sagte Antilius, ohne seinen Freund loszulassen.
»Ich habe mich noch nie so gut gefühlt wie jetzt«, sagte Gilbert.
»Wie hast du das bloß angestellt, aus deinem Gefängnis zu entkommen?«
»Ich habe nichts gemacht. Von einer Sekunde auf die andere erwachte ich hier neben den Wasserfällen. Es ist ein Wunder.«
»Ich freue mich für dich. Darf ich vorstellen? Das ist , äh ... ich weiß ihren Namen nicht. Sie hat keinen.«
Gilbert machte ein verdutztes Gesicht und beäugte die fremde Frau.
»Ist schon in Ordnung«, beschwichtigte sie. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Gilbert. Du hast die Freiheit verdient. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der es so lange in einem Spiegelgefängnis ausgehalten hat wie du.«
Gilbert zog misstrauisch die Augenbrauen runter. »Woher weißt du, dass ich…?«
»Lass mal gut sein. Wir werden dir gleich alles erklären, obwohl ich bei der ganzen Geschichte auch noch nicht ganz durchgestiegen bin«, sagte Antilius überschwänglich.
»So, so. Du hast keinen Namen?«, wunderte sich Gilbert.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Sie braucht hier keinen Namen, wie sie selbst sagt«, ergänzte Antilius.
»Es wäre aber schön, wenn wir sie irgendwie ansprechen könnten. Wir wäre es, wenn wir dir einen Namen geben?«
Die Namenlose war verblüfft über diesen ungewöhnlichen Vorschlag, wollte zunächst ablehnen, entschied sich dann aber um. Einen Namen zu haben, war ein verlockender Gedanke. Wie lange war es her, dass sie einen Namen hatte?
»Also gut. Was schlagt ihr vor?«, fragte sie auffordernd.
Antilius fiel kein passender Name ein, wohl aber Gilbert: »Wie wäre es mit Tahera?«
»Woher hast du denn den Namen?«, fragte Antilius zweifelnd.
Gilbert war mit einem Mal ganz woanders. Ein Schatten bildete sich auf seinem Gesicht. Ein Schatten einer Erinnerung. Sein Körper war zwar jetzt befreit in Verlorenend, aber seine Gedanken waren weit weg. »Er ist mir nur so eingefallen«, sagte er mit leeren Augen.
»Also mir gefällt er«, sagte Tahera.
»Sehr gut. Dann können wir jetzt in die Taverne gehen und auf die Freiheit anstoßen«, meinte Antilius.
Gilbert bekam leuchtende Augen. »Eine Taverne? Bier! Du meine Güte! Wie lange habe ich kein Bier mehr getrunken?«, sagte er. Der Schatten auf seinem Gesicht, der Antilius nicht entgangen war, verschwand. Aber er verschwand nicht ganz. Auch das konnte Antilius sehen. Und als er darüber nachdachte, welche Bedeutung dahinter stecken könnte, wurde ihm klar, dass ein Hauch dieses Schattens schon immer da gewesen war.
Er hatte ihn bis heute nur noch nicht bemerkt.
Kein Plan, keine Armee und kein Mut
Von wegen feige! Nichts brachte ihn so sehr in Rage, wie als Feigling tituliert zu werden. Und dies kam nicht selten vor.
Dabei war er wirklich nicht gerade das, was man als mutig bezeichnen würde. Und beim ersten Anzeichen von Gefahr machte er sich stets aus dem Staub. Das war wohl ein angeborener Reflex seiner Spezies. Dies machte er sich stets glauben.
Aber ob mutig oder nicht, sein Fluchtinstinkt hatte ihm mit absoluter Sicherheit das Leben gerettet. Wenn es darauf ankam, dann konnte er rennen. Schneller als alle anderen. Sogar schneller als die Piktins. Haif Haven hatte einen rekordverdächtigen Spurt hingelegt. Er hatte diese blutrünstigen Viecher einfach abgehängt. Das glaubte er zumindest.
In Wirklichkeit war es so, dass zwei der Piktins ihn zunächst verfolgt hatten und ihn dann als einen köstlichen Mitternachtsimbiss verspeisen wollten. Doch dann verloren sie aus irgendeinem Grund das Interesse an ihm. Die meisten der Piktins hatten sich entschieden, Antilius zu verfolgen.
Der arme Antilius. Hat er mich doch vor den Gorgens gerettet. Würde mich wundern, wenn er das überlebt hat, dachte Haif traurig.
Alle Piktins wollten sich auf Antilius stürzen. Sie mussten gespürt haben, dass er anders war als die anderen. Dass er etwas Besonderes war. Ein besonderer Mitternachtsimbiss.
So lange und so schnell wie Haif gelaufen war, musste er bestimmt mehrere Pfunde Fett verloren haben.
Tagelang war er in heller Panik durch die Wälder zurück nach Fara–Tindu gelaufen. Irgendein innerer Kompass musste ihn geleitet haben. Anders konnte er sich nicht erklären, wie er dorthin gefunden hatte.
Nachdem er die Stadt erreicht hatte, erholte er sich in einem Gasthaus schnell von den beispiellosen Strapazen. Sortaner waren ein unverwüstliches Völkchen.
Eigentlich wollte er sich allmählich wieder auf den Heimweg nach Itap-West machen, doch die physische Erholung, die sich bei ihm einstellte, ging nicht mit der psychischen einher. Er war einfach weggerannt. Er hatte seine Retter zurückgelassen. Er hatte sie im Stich gelassen. Er dehnte, bog und zerschnitt diese Unwiderlegbarkeit in schlaflosen Nächten. Er konnte sie jedoch nicht eliminieren. Sie war nun einmal da. Er würde mit ihr leben müssen.
Für den Rest meines Lebens.
Er hatte sich eingeredet, dass seine Retter sehr gut ohne ihn zurechtkommen würden, dass sie irgendwie die Piktins bezwingen konnten, aber es half nicht, die Schuldgefühle wegzuwischen.
Ein paar schlaflose Nächte später erfuhr Haif eher durch einen Zufall von einem guten Bekannten, dass der Herrscher Koros Cusuar in seinem kleinen Reich etwas Unheilvolles plante. Es hieß, die Gorgens würden ihn unterstützen. Zusammen wollten sie die Ahnenländer überfallen. Sie hätten etwas aus der Largonen-Festung gestohlen und dem Herrscher einen menschlichen Gefangenen offeriert, den sie dort entdeckt hatten. Haif wusste ganz genau, was sie gestohlen hatten.
Gerüchte verbreiteten sich auf der Fünften Inselwelt äußerst rasch. Tatsachen, so wusste es Haif aber besser, verbreiteten sich doppelt so schnell.
Ein menschlicher Gefangener.