Mein Sohn Bob war eine hübsche Puppe aus Zelluloid, sehr süß und albern, mit aufgerissenen, lachenden blauen Augen und schelmischen Grübchen in den rosa Backen. Ich liebte ihn heiß und hätte um die Welt nicht eine Nacht ohne ihn geschlafen. Seine Funktionen in meinem Leben waren mannigfacher und komplexer Art. Erstens war er mein geliebtestes Spielzeug und höchst geschätzter Besitz; zweitens gehörte er zu den Hauptfiguren, nicht nur in der »Gro-Schi« (Großes Schiff)-Welt, sondern auch in dem anderen Legendenkreis, den wir durch die Jahre hindurch entwickelten und weiterspannen. In diesem zweiten Mythos erschien der Zelluloid-Adonis als Sohn und Retter des greisen Königs Motz, dessen Leben und Reich von einer feindlichen Koalition bedroht war – dem grimmen Heere der Amazonen, als deren Anführerin unser Fräulein figurierte, und der Kohorte böser Gassenjungen, die uns auf dem Spaziergang zu belästigen pflegten.
Leider war Prinz Bob nicht so tugendhaft wie mutig. Nach gewonnener Schlacht erging er sich gerne in allerlei üppigen Zerstreuungen, unter denen der übermäßige Genuß von Cremetörtchen die kostspieligste und unmoralischste war. Kurzum, der strahlende Held und Erbe war zugleich ein rechtes Sorgenkind und ein leichtsinniger Taugenichts, der eine Menge skandalöser Unkosten verursachte. Und es war eben in dieser Eigenschaft – in seiner Rolle als schlemmerischer Prinz Charming – daß mein Zelluloid-Bob in der eleganten Sphäre des Passagierdampfers Zutritt fand. Seine liebenswürdige, wenngleich korrupte Persönlichkeit verband die beiden Regionen, den mondänen Dampfer und das kriegerisch-heroische Traumland.
Der blutige Zwist zwischen den edlen Puppen und den garstigen Amazonen schien ebenso unabsehbar wie die ziellose Wasserfahrt unseres Hauses. Die Intrigen und Abenteuer der beiden phantastischen Welten gingen mehr und mehr ineinander über. Golo und ich, die zwei gequälten Magnaten, hatten uns nicht nur über das jähe Auf und Ab der Wertpapiere Sorge zu machen, sondern auch über die strategische Lage an der Motzfront.
»Haben Sie das gelesen, Hochwürden?« fragte ich Golo, der antwortete: »Nein, Durchlaucht. Was gibt's denn Neues?«
»Zehntausend Babys gefallen«, verkündete ich düster. »Sonst nichts. Und zwei Millionen süßer Hündchen gefangengenommen. Vielleicht ist alles verloren, und König Motz muß abdanken – es sei denn, Prinz Bob verzichtet auf seine Kirschkuchen und vollführt einen seiner famosen Streiche.«
»Zu spät! Zu spät!« klagte mein würdiger Begleiter. »Wehe uns! Es ist aus mit dem guten König. Dort drüben naht sich, kichernd vor Schadenfreude, das Schauerweib, die Amazonenvettel!«
Und er deutete auf Fräulein Betty, die sich vom Hause her hastig näherte.
Spiele und Leben bilden eine Einheit – magisch ineinander verwoben. Die Spiele nehmen die kräftige Farbe der Wirklichkeit an, die Wirklichkeit hat den schillernden Zauber der Phantasien. Die Zeit der Kindheit scheint mir jetzt, in der Erinnerung, eine glänzende Reihenfolge heiterer Zeremonien und zeremonieller Freuden.
Es gibt immer etwas, dem man erwartungsvoll entgegensieht. Am Vormittag freut man sich auf das Mittagessen; während man die Suppe löffelt, träumt man schon vom Pudding. Von September bis Dezember wartet man auf Weihnachten – die wundervolle Minute im dunklen Zimmer, wo wir die feierlichen Lieder singen, bevor die Flügeltüre sich öffnet und den glitzernden Anblick des Zauberbaumes enthüllt; Weihnachten, wenn jeder sich mit gefülltem Gänsebraten und Marzipan überißt; das schöne Wiegenfest des Jesusknaben, der strahlende Höhepunkt des Kinderjahres. Die folgenden Wochen sind noch von Weihnachtserinnerungen erleuchtet, die allmählich in die Erwartung des Osterfestes übergehen. Freilich kann der Ritus der bunten Eier es nicht mit der großen Freude des geschmückten Tannenbaumes aufnehmen; aber Ostern ist auf seine Art doch auch eine große Sache – der heitere Beginn des Frühlings, das Versprechen des Sommers. Denn nun sind ja die warmen Monate schon nahe – der blühende Juni (in den der Geburtstag des Zauberers fällt), der sonnendurchwärmte Juli (der Mieleins Geburtstag als seinen Höhepunkt bringt), der schon etwas überreife, faule, satte August. Es sind diese Monate, die wir in Tölz verbringen eine pittoreske kleine Stadt im Isartal, am Fuß der Alpen.
Wir haben ein Haus in Tölz, das Tölzhaus, und einen großen Garten, wo man Spiele spielen kann, für die es anderwo nicht genug Platz gäbe. Die Ferienwochen sind lang, zunächst nehmen sie sich beinah endlos aus, aber schließlich gehen sie doch zu Ende. Der Sommer liegt erschöpft und seiner selbst ein wenig überdrüssig auf den Wiesen, deren Grün die erste Frische längst verloren hat. Die Spiele im großen Garten werden fade, wenn die Chrysanthemen ihre reife Pracht in den Blumenbeeten entfalten. Man ist froh, daß der Winter vor der Türe steht, mit Schneeballschlachten und Rodeln und den regelmäßigen Sonntagsessen im Hause der Großeltern.
Ofeys kostbarer Renaissance-Palast verlor nie seinen erregenden geheimnisvollen Zauber und war doch auch der vertrauteste Ort, das Kindheitsschloß, das große Haus der Erinnerungen. Es existierte immer, hat nie aufgehört zu sein. Die bescheidene Wohnung in Schwabing, in der ich geboren wurde, ist längst verblichen: wir verließen sie, als ich noch ein Baby war. Unser zweites Heim war in einer Gegend vorstädtischen Charakters gelegen, in Bogenhausen, nahe der Isar. Es muß ein geräumiges und angenehmes Appartement gewesen sein, aber es gewann nie die Würde des Mythischen; in meiner Erinnerung scheint die Wohnung in der Mauerkircher Straße nur ein komfortabler Warteraum, wo wir einige Jahre zubrachten, während das neue Haus im Entstehen war. Was dieses betrifft, eine stattliche Villa am Flußufer, so beherrscht sein Bild den größten Teil meiner Jugend. Und doch bleibt es »das neue Haus« für mich, da ich schon acht Jahre alt war, als wir 1914 einzogen.
Vier Jahre später, 1918, gaben wir das Landhaus in Bad Tölz auf – das geliebte Idyll so vieler Sommer. Tölz ist das Herz, die Quintessenz des Kindheitsmythos; aber seine Realität ist irgendwie fragwürdig, schattenhaft geworden. Ich habe das Haus nicht betreten seit dem Tage, da wir es verließen. Freilich erinnere ich mich noch der Anordnung der Zimmer, der Form und Farbe der Möbel, des weiten Blickes, den man von der Terrasse über das Tal zum Gebirge hatte. Aber alle Details sind verwischt und verwandelt zu tief durchtränkt von Heimweh mythisch-glücklicher Vergangenheit.
Der einzige Ort, dessen legendäre Würde es mit derjenigen von Tölz aufnehmen konnte, war Großvater Ofeys prächtige Residenz in der Arcisstraße, im Zentrum der Stadt München. Aber die »Arcissi«, wie das großelterliche Haus bei uns hieß, war noch intakt, noch gegenwärtig, als das Tölzhaus sich längst jener wunderbaren Metamorphose unterzogen hatte, die Tapeten, Fenster, Öfen und Terrassen in die geisterhaft zarte und unzerstörbare Substanz des Mythos verwandelt. Wenn ich versuche, mir das erste Eßzimmer vorzustellen, wo ich in der Gesellschaft der Erwachsenen aufrecht bei Tische sitzen durfte, so ist es der große Speisesaal des Pringsheimschen Hauses, der mir in den Sinn kommt – reich geschmückt mit Gobelins, schönem Silbergerät und den langen Reihen von Ofeys schillernden Majolikas.