Es war in diesem kosmopolitisch geselligen, heiter kultivierten Milieu, daß der ernste junge Romancier aus Lübeck dem dunkeläugigen Mädchen begegnete, dem sein Herz sich zuwendete und ein Leben lang die Treue hielt. Er hatte sie von weitem beobachtet, ehe er sie noch gesellschaftlich kennenlernte. Sie pflegte auf dem Rad zur Universität zu fahren – umgeben von ihren Brüdern wie eine gelehrte kleine Amazone von der Schar ihrer Trabanten. Sie studierte Mathematik und vereinte den schlagfertigen Witz der Porzia mit Jessicas exotisch-süßer Erscheinung. Die Sanftheit des goldbraunen Blicks kontrastierte zur aggressiven Ironie der geschwinden Rede; hinter der kapriziösen Wortgewandtheit der verwöhnten Prinzessin verbargen sich kindhafte Sprödheit und Unschuld. Der junge Romancier war bezaubert. Er sah und beschrieb sie als ein Wunder von Geist und Charme, eine zugleich wilde und delikate Blume von fremder Lieblichkeit. Neben ihrem Zwillingsbruder Klaus, dem jungen Musiker, zeigte sie sich bei Theaterpremieren, auf Festen, in der Oper. Das Gespräch zwischen den beiden wimmelte von geheimen Formeln, zärtlichen Anspielungen, rätselhaften Scherzen. Die zwei seltsamen Kinder schienen in einer Welt für sich zu leben – beschützt von ihrem Reichtum und von ihrem Witz, bewacht und verwöhnt von Bedienten und Verwandten. Daheim, im väterlichen Palast, spielten und kicherten sie miteinander, während das Lachen ihrer Mama von der Terrasse kam wie das Plätschern einer Fontäne und die Melodien aus »Walküre« und »Parsifal« vom Musiksaal zu den Zwillingen herübertönten.
Zunächst verhielt die Märchenprinzessin sich spöttisch kühl gegenüber den Werbungen des jungen Dichters. Allmählich jedoch gelang es seinen subtilen Schmeicheleien und seiner geduldigen Zärtlichkeit, das Eis zu brechen – besonders da der Zwillingsbruder und die majestätische Mama seine Absichten eher begünstigten. Was den Vater betraf, so war er freilich als Gegner zu betrachten: jeder, der ihm das geliebte Kind entführen wollte, hatte mit seinem Widerstand zu rechnen. Es war keine leichte Aufgabe, das gallige Temperament des Alten wenigstens halbwegs zu besänftigen und ihn dahin zu bringen, daß er die Visiten des Freiers mit einer Art von grollender Resignation duldete. Glücklicherweise gab es wenigstens eine Neigung, die der kratzbürstige Gelehrte und sein künftiger Schwiegersohn gemeinsam hatten, außer ihrer Liebe zu Katja – die Liebe zu Wagners Werk. Der Professor machte sich nichts aus Literatur, noch interessierte der Romancier sich für Mathematik oder Majolikas; aber beide waren unter dem Bann von »Tristan« und »Lohengrin«. Wenn sie sich sonst nicht viel zu sagen hatten, so konnten sie immer noch Zitate aus den Musikdramen austauschen und sich gemeinsam kostbarer Details aus dem bewunderten Oeuvre erinnern.
Die Romanze zwischen Katja und Thomas entwickelte sich unter dem Schutz Wagnerischer Harmonien. Endlich wurde sie von den Eltern gesegnet und von einem protestantischen Pastor legalisiert.
Das Hochzeitsfest im Hause Pringsheim war ein gesellschaftliches Ereignis großen Stils, wie man sich vorstellen kann. »Ganz München« gratulierte dem jungen Paar; der Professor hielt eine Rede voll beißender Scherzhaftigkeiten; Frau Hedwig schimmerte in großer Toilette wie ein Traum von Tizian, und sogar Frau Julia Mann zeigte in festlicher Erregung Spuren der alten Schönheit. Die Braut glich mehr denn je einer Märchenprinzessin – die dunklen, versonnenen Augen weit geöffnet unter dem Myrtenkranz. Blaß und jung saß sie zwischen dem grimmig witzelnden Papa und dem Bräutigam, dessen Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart gleichfalls recht bleich erschien. Ein hübscher junger Mann, wie allgemein festgestellt wurde – und wie gut er sich hielt, wie gestrafft und zusammengenommen, beinah militärisch. Aufrecht und schlank in seinem gutsitzenden Frack, versuchte er seine Erregung zu verbergen – lächelnd und konversierend, so liebenswürdig und korrekt wie je. Aber die hellen Augen, zugleich zerstreut und durchdringend unter den schräg gestellten Brauen, schienen nichts von der Rede zu wissen, die so glatt und kühl aus seinem Munde kam. Übrigens geschah es auch wohl, daß seine Braut zu antworten vergaß und in Gedanken versunken blieb, während der Vater scherzte und der Gatte parlierte.
Klammerte sich ihr Herz an die Vergangenheit? Gedachte sie all der süßen und vertrauten Dinge, die sie verlieren sollte? Die Spiele mit den Brüdern, die Teegesellschaften der Mama, der Gutenachtkuß des Vaters, die Riten am Frühstückstisch – sollte es mit all dem nun vorüber sein? Die Neckereien, das Gekicher, die Studien, das Familienkauderwelsch, jedem Außenstehenden unverständlich. Es galt, Abschied davon zu nehmen.
Und jetzt? Was wartete ihrer, wenn dies Fest vorüber war? War es ein neues Abenteuer, ein neues Märchen, das nun beginnen sollte? Was meinte er denn, ihr junger Schriftsteller, wenn er von einem »strengen Glück« sprach, das sie gemeinsam erleben würden? Er hatte eine seltsame Art, solche Dinge zu sagen, feierlich und spöttisch zugleich, als machte er sich ein wenig lustig über sein eigenes Wort, über das eigene Gefühl. »Ein strenges Glück« … wie charakteristisch für ihn diese Formel war! Er verachtete alles Weiche und Schlaffe. Glück – ein gewöhnliches Glück ohne Strenge – wäre wohl ein bißchen weich und schlaff, etwas banal, ein wenig ordinär: so viel verstand die sinnende junge Braut.
Aber warum war sie auserwählt – sie unter allen Frauen –, sein ungewöhnliches und strenges Los zu teilen? Was war es, was sie mit diesem disziplinierten Träumer aus einer fernen hanseatischen Stadt verband? Gehörten sie zueinander, sie und er, weil sie beide »anders« waren – beide distanziert vom Wirklichen, beide problematisch, verwundbar und zur Ironie geneigt? Das satte und sentimentale Behagen trivialen Eheglückes hätte zu ihr so wenig gepaßt wie zu ihm.
Denn offenbar gehörte sie nicht zu jenem Typ der Blauäugigen und »Gewöhnlichen«, zu denen die Helden seiner Bücher sich mit so viel zärtlicher Verachtung und ironischer Sehnsucht hingezogen fühlten. Sie war weder blond noch unwissend und robust, sondern dunkeläugig und nachdenklich und nur zu vertraut mit den Schmerzen, die er beschrieb. Ihre Ehe war also nicht die Begegnung zweier polarer Elemente; eher handelte es sich wohl um die Vereinigung von zwei Wesen, die sich miteinander verwandt wußten – um ein Bündnis zwischen zwei Einsamen und Empfindlichen, die gemeinsam einen Kampf zu bestehen hofften, dem jeder für sich vielleicht nicht gewachsen wäre. Sein Entschluß, die Freuden und Verantwortlichkeiten des normalen Lebens zu akzeptieren, Kinder zu zeugen, eine Familie zu gründen – sein Entschluß, glücklich zu sein: was war es denn im Grunde, wenn nicht ein von moralischem Pflichtgefühl diktierter Schritt, ein Versuch, jene »Sympathie mit dem Tode« zu überwinden, die wie ein Leitmotiv durch das Gewebe all seiner Träume ging? Weder Disziplin noch Ironie wären stark genug gewesen, jener süßen und gefährlichen Verlockung zu begegnen – Tristans nihilistischer Verzückung, dem Nirwana-Komplex, der tödlichen Faszination aller Romantik. Welche Macht war groß genug, um es aufzunehmen mit diesem dunklen Zauber? War die Liebe das magische Heilmittel, durch dessen Kraft das Fragwürdige und Zerstörerische sich dem Leben dienstbar machen ließe? … Aber wie schwer muß es sein, das Idiom der Liebe zu lernen! Wieviel Scham wird zu überwinden, wieviel Opfer werden zu bringen sein!?
Bin ich tapfer genug? dachte die junge Braut – sehr zart und kindlich zwischen dem amüsanten Papa und dem feierlichen Bräutigam. Soll alles ganz und gar anders sein von jetzt an? Wird es sehr lange dauern, bis ich mich dran gewöhne?
Alles dauert lang, das Leben hat es nicht eilig. Die großen Entscheidungen mögen in einem dramatischen Augenblick gefaßt werden, aber sie materialisieren und entwickeln sich nur allmählich; es dauert Monate oder Jahre, bis sie die Bedeutung und die vertraute Gestalt der Realität annehmen.
Eine kleine Wohnung in der Franz-Joseph-Straße in Schwabing, nicht weit vom Pringsheimschen Elternhause – war das die große Verwandlung? Der intime Kontakt mit dem barocken Vater, der glänzenden und zärtlichen Mama, den ritterlichen Brüdern ging weiter – beinahe unverändert. Alles schien fast beim alten. Erst nach Monaten wurde klar, daß man schon mitten im neuen Abenteuer, mitten in der Metamorphose war.
Wie schwer und entstellt sie nun erschien, die delikate Märchenprinzessin! Wie verwirrt und hilflos sie war, angesichts der natürlichsten und doch wunderbarsten Verheißung! Nur Geduld, kleine Mutter!