Der Wendepunkt. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754174265
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wurde. Das besorgte Gesicht des Vaters schien sich in die Länge zu ziehen, als ob es von einem Zerrspiegel reflektiert würde, indes die Augen unter den hochgezogenen Brauen kleiner und dunkler wirkten, als wir sie sonst kannten. Wir waren uns nie ganz darüber klar, ob er bei Unterhaltungen dieser Art seine Mutter absichtlich imitierte, um uns zum Lachen zu bringen, oder ob er sich der Ähnlichkeit überhaupt nicht bewußt war und ganz unabsichtlich die omamahaften Züge annahm, während er uns ganz im Geist und Stil der Omama, vom gefleckten Fliegenpilz und dem unzuträglichen Schierlingskraut erzählte.

      Er erschien Punkt zwölf am Rande der Waldeslichtung, um Mielein und uns zum Baden abzuholen. Der moorige Teich, in dem wir schwimmen lernten, der sogenannte »Klammerweiher«, lag etwa eine Viertelstunde von unserem Haus und unserem Wald entfernt. Es war eine eher ermüdende Wanderung in der schwülen Mittagsstunde auf dem schattenlosen, geschlängelten »Wiesenweg«, der querfeldein zum Badeplatz führte. Aber was für ein Pfad! Was für eine Landschaft! Es gibt keine andere, die mir ebenso liebenswert schiene …

      Ja, dies ist Sommer: Wir sieben – zwei Eltern, vier Kinder und ein tanzender, wirbelnder Motz – auf dem Wiesenweg, langsamen Schrittes marschierend, dem Klammerweiher entgegen. Der Grund, auf dem wir gehen, ist weich und elastisch, es ist sumpfiger Boden: daher die Üppigkeit der Vegetation, das tiefe Grün des saftig wuchernden Grases, das flammende Gold der Butterblumen, der reiche Purpur des Mohns.

       Dies ist der Sommerhimmel: in seinem Blau schwimmen weiße, flockige Wolken, die sich zwischen den alpinen Gipfeln zu barocken Formationen ballen. Die Luft riecht nach Sommer, schmeckt nach Sommer, klingt nach Sommer. Die Grillen singen ihr monotonhypnotisierendes Sommerlied. Zu unserer Rechten liegt das Sommer-Städtchen, Tölz mit seinen bemalten Häusern, seinem holprigen Pflaster, seinen Biergärten und Madonnenbildern. Um uns breitet sich die Sommerwiese; vor uns ragt das Gebirge, gewaltig getürmt, dabei zart, verklärt im Dunst der sommerlichen Mittagsstunde.

      Seht, und da ist unser Sommer-Weiher, ein kleiner, runder Teich mit hohem Schilf am Ufer. Weiße Wasserrosen, beinah tellergroß, schwimmen auf seiner regungslosen, dunklen Fläche. Das Moorwasser, es ist gold-schwarz in meiner Erinnerung, atmet einen kräftig-aromatischen, dabei etwas fauligem Geruch. Es ist von seltsamer Substanz, das Wasser des Klammerweihers, sehr klar trotz seiner dunklen Färbung, von fast öliger Weichheit, und so schwer, daß man das eigene Gewicht kaum spürt, solange man sich seiner goldenen Tiefe anvertraut. Trotzdem hat ein Bäckergeselle aus dem benachbarten Dorf es fertiggebracht, in unserem Teich zu ertrinken. Wir haben seine Leiche gesehen, schön säuberlich aufgebahrt zwischen Blumen und Kerzen.

      Es kam gar nicht selten vor, daß wir abends einen Spaziergang zum Friedhof unternahmen, besonders seitdem unsere frühere Köchin, die dicke Marie, den Herrn Schmiedl von der Friedhofsgärtnerei geheiratet hatte. Die Inschriften auf den Grabsteinen kamen uns komisch vor. Was für kuriose Namen die Toten hatten! Sie hießen »Der ehrbare Jüngling Xaver Hinterhuber« und »Das fromme Mägdelein Annastasia Bierdotter«. Die Nähe der Verwesung ängstigte uns nicht. Wir lasen, daß »der ehrbare Jüngling« und »das fromme Mägdelein« hier »in Frieden ruhten«, aber wir konnten uns nichts drunter vorstellen. Der Tod hatte keine Realität für uns; er war eines jener Geheimnisse der großen Leute, um die man sich besser nicht kümmerte, eine »Erwachsenen-Sage«.

      Warum führte uns die Affa, zufällig – wie sie später behauptete – in jene abgelegene Kapelle, wo der ertrunkene Bäcker unter einem Berg von weißen Blüten zur Schau lag? Erst begriffen wir nicht, daß es ein Toter war, dem wir da gegenüberstanden. Wir hielten ihn für ein Gebild aus Marmor oder Wachs, ein frommes Kunstwerk, bestimmt zum Schmucke eines Grabes oder der Kapelle. Aber die Affa klärte uns eilig auf. Ihre Stimme zischte vor Erregung. Erkannten wir es nicht, das Zischen der argen Schlange, da sie uns flüsternd verriet, was es auf sich hatte mit der »Wachsfigur«: daß es der Bäckergeselle war aus dem nächsten Dorf, und daß er nach einem Biergelage hatte schwimmen wollen im Klammerweiher, wobei ihn denn sein Schicksal ereilte. »Ersoffen ist er, jämmerlich ersoffen!« raunte die Affa. »Und wißt ihr auch, warum er die schwarze Binde um den Mund hat? Weil seine Lippen ganz blau sind und geschwollen! Man kann sie gar nicht anschauen, seine Lippen, ohne daß einem übel wird …«

      Aber was man von ihm anschauen konnte, war nicht häßlich, sondern schön. Von einer fremden, spröden, beunruhigenden Schönheit. Was für empfindliche, edle Hände er hatte! Hände wie ein Prinz: wie kam der Bäckergeselle dazu? Und sein elfenbeinfarbenes Antlitz! Wie vornehm es schien, ja wie majestätisch mit seiner glatten Stirn, den für immer geschlossenen Lidern!

      Worauf tat er sich denn so viel zugute, der Schweigende dort zwischen den Blumen und Kerzen? Hatte er denn eine Heldentat vollbracht, indem er im Klammerweiher ertrank? Oder war es die bloße Tatsache, daß er tot war, die ihn so prinzlich und so kostbar machte? Aber die Erwachsenen behaupteten doch, daß wir alle sterben müssen … Wie konnte der Tod also eine besondere Auszeichnung sein? Warum war sein Anblick so furchtbar und so schön?

      Wir standen reglos, versunken in das Bild dieser unbegreiflichen Hoheit, als Affas Stimme uns mahnte: »Zeit zum Nach-Hause-Gehen, Kinder! Jetzt habt ihr ihn ja gesehen …«

      Ja, nun hatten wir ihn gesehen, den Toten, feierlich zur Schau gestellt in der Grabkapelle. Wir würden ihn nicht vergessen. Ewig jung, in vornehm bleicher Verklärung, gesellte sich der Bäckergeselle zu den Mythen der Kindheit.

      Krieg

      1914–1919

      Es gab kein blutiges Schwert am Himmel. Aber daß unser Vater die Schwert-Erscheinung ankündigte, war seltsam und bedrohlich genug.

      Unser Sommer in Tölz war besonders nett dieses Jahr. Drei lustige Cousinen, Eva-Marie, Rose-Marie und Ilse-Marie, bewohnten das Nachbarhaus gemeinsam mit ihrer zarten Mama, unserer Tante Lula, und ihrem lebhaften kleinen Vater, unserem Onkel Jof, einem bayerischen Bankier. Die drei Mädchen waren gute Kameraden – sehr brauchbar und gefügig. Wir sieben – vier Mannkinder und drei Löhrmädchen – bildeten eine unternehmungslustige kleine Gesellschaft, unermüdlich beschäftigt mit dem Erfinden immer neuer Spiele und Streiche.

      Ein Mummenschanz, auf Mitte August festgesetzt, sollte den Höhepunkt der Saison bilden. Wir beabsichtigten, die Erwachsenen mit einer Theateraufführung großen Stils zu überraschen einem wirklichen Fest-Spiel voll Spannung und buntem Zauber. Eva-Marie, die Älteste, leitete die Proben, die in unserem Garten unter dem Kastanienbaum stattfanden. Alles ging glatt, wir konnten schon unsere Rollen, die Affa war mit der Herstellung der Kostüme beschäftigt; da gab es einen störenden kleinen Zwischenfall.

      Erst dachten wir, es handle sich nur um eine bedeutungslose Laune des Kinderfräuleins. Es sah ihr so recht ähnlich, unsere künstlerische Arbeit zu unterbrechen, gerade als Eva-Marie dabei war, ihren schönsten Monolog zu rezitieren. Die Miene des Fräuleins schien uns blaß und verzerrt vor Bosheit, als sie uns mit ominöser Höflichkeit bedeutete, daß gerade jetzt kaum jemand sich für unser Schauspiel interessieren würde. »Ihr laßt es wohl besser sein«, sagte sie spitzig.

      Was das heißen solle, fragten wir, bebend vor Erregung. »Wollen Sie uns wirklich zumuten, unser großes Unternehmen aufzugeben, nur weil Sie einmal wieder schlechter Laune sind?«

      Sie zuckte die Achseln voll spöttischer Überlegenheit. »Mit meiner Laune hat dies nichts zu tun«, stellte sie trocken fest. Und, mit höhnischem Triumph: »Dem deutschen Reich und unserem österreichischen Bundesgenossen ist soeben der Krieg erklärt worden.« Nach einer eindrucksvollen Pause fügte sie noch hinzu: »Der Kaiser hat persönlich das Oberkommando von Armee und Flotte übernommen«, als ob diese strategische Einzelheit die Absurdität unseres theatralischen Planes endgültig bewiese. »Aber ihr seid ja noch viel zu jung, um die Größe solcher historischen Begebenheiten zu begreifen.« Dabei wandte sie sich schon zum Gehen.

      In der Tat, wir waren viel zu jung. Wir saßen im Gras und staunten. Keiner von uns hat die leiseste Idee, was die Mitteilung des Fräuleins bedeutete. Konnte der Kaiser, in seiner neuen Stellung als Oberbefehlshaber, einfach unsere Vorstellung verbieten? Offenbar war dies ein Problem von entscheidender Wichtigkeit. Wir besprachen