Der Vater wandte seinen Kopf nicht gegen Mielein, auch bemerkte er unsere Gegenwart nicht, als er mit gesenkter, ernster Stimme sagte: »Nun wird auch bald ein blutiges Schwert am Himmel erscheinen.«
Danach hatten wir nicht mehr den Mut, unsere Fragen zu stellen. –
Krieg schien aufregender als jedes andere Spiel, das uns bisher vorgekommen war. Der große Spaß bestand darin, daß die Erwachsenen mit hektischem Enthusiasmus an dieser neuen Lustbarkeit teilnahmen. Jedermann schien von der Stärke der Koalition geschmeichelte, die sich gegen unser Vaterland zusammengetan hatte. Offenbar war das Hauptziel dieses Spieles, sich so verhaßt wie möglich bei den anderen Völkern zu machen. »Viel Feind, viel Ehr!« Der Schlachtruf klang lustig und siegesgewiß. Die Tölzer Ladenbesitzer und Bauern amüsierten sich über die vielen Kriegserklärungen. Jetzt auch noch Rumänien! So ein Glück! Alle wollten gegen Deutschland kämpfen! Nun, unser Kaiser hatte Schneid genug, es mit der ganzen feigen Bande aufzunehmen.
Frau Holzmeyer vom Kolonialwarengeschäft äußerte sich verächtlich über das dekadente Frankreich und das perfide Albion; Frau Pöckel von der Drogerie legte besonderen Wert darauf, den russischen Bären bald geschlagen zu sehen. Was den Apotheker um die Ecke betraf, so hatte er aufsehenerregende Nachrichten von seinem Sohn, der als Oberfeldwebel bei den Ulanen diente. Diesem eingeweihten jungen Mann zufolge war Paris vollkommen unterminiert und konnte jeden Augenblick in die Luft gesprengt werden – es hing nur von unserem Kaiser ab, den entscheidenden Wink zu geben.
Die kleine Stadt schwirrte von Gerüchten und Prophezeiungen. Düstere Geschichten über feindliche Geheimagenten wurden eifrig auf dem Marktplatz diskutiert. Der Mann vom Telegraphenamt erging sich in alarmierenden Andeutungen, chiffrierte Depeschen betreffend, die über seine Funkstation gegangen waren und klar anzeigten, daß das Trinkwasser in Tölz und den benachbarten Orten vergiftet war. Eine ältere Dame, die seit mehreren Wochen im Gasthaus zum Goldenen Hirschen logierte, wurde beinahe vom Pöbel gelyncht, weil sie mit einem fremdländischen Akzent sprach und überhaupt einen verdächtigen Eindruck machte. Die Züge waren überfüllt, die Hotels verödet. Die Sommerfrischler hasteten zum Bahnhof, als ob Tölz und das benachbarte Bad Krankenheil dazu bestimmt seien, über Nacht zum Kriegsschauplatz zu werden.
Auch unsere Verwandten – die Löhrs sowohl wie die Manns eilten nach München, um verschiedenen Vettern und Brüdern Lebewohl zu sagen. Mielein mußte Offi trösten, die wegen Onkel Peter in aufgelöstem Zustand war. Dieser weilte zufällig als Gast eines wissenschaftlichen Kongresses in Australien, was offenbar eine große Unannehmlichkeit bedeutete, da auch Australien uns mutwillig den Krieg erklärt hatte. Onkel Peter war Physiker und, nach Onkel Eriks Tod, Mieleins ältester Bruder. Einen Onkel hatten wir schon im fernen Argentinien eingebüßt; sollte uns nun noch ein zweiter im ebenso entlegenen Australien kaputtgemacht werden? Der Gedanke hatte etwas Empörendes; aber man kam nicht recht dazu, sich um Onkel Peter so ausführlich und intensiv zu sorgen, wie er es wohl verdient hätte. Es gab zu viele Aufregungen – jeden Tag etwas anderes.
Das Fräulein sagte, daß in solch großen, wundervollen Tagen niemand an sich selber denken dürfe: »Die ganze Nation muß Opfer bringen!« Was sie betraf, so tat sie sich viel auf einen Cousin zugute, der Kapitän in der Kriegsmarine war. Wenn ihr Bräutigam noch am Leben gewesen wäre, hätte sie ihn gerne der Infanterie überlassen; leider jedoch war er vor einigen Jahren bei einem Automobilunfall umgekommen. Affa, die mit dem Kinderfräulein in der Frage des Opferbringens übereinstimmte, fiel durch besonders blutrünstigen Enthusiasmus auf. Sie unterhielt sich vortrefflich, wenn sie Bier und belegte Brote an die Soldaten verteilte, deren Zug auf dem Weg nach München in Tölz Station machte. Sie mußte viel kichern und erröten über die derben Komplimente, mit denen die jungen Vaterlandsverteidiger den berühmten Affa-Busen belachten. »Nur gut, daß es die Kinder nicht verstehen!« flüsterte sie dem Fräulein zu, deren Gesicht vor Neid mager und gelblich wurde. »Haben Sie das gehört? So was Freches! Aber man muß es sich gefallen lassen. Krieg ist Krieg …«
Wenn ich versuche, die Atmosphäre von 1914 wieder einzufangen, so sehe ich flatternde Fahnen, graue Helme mit possierlichen Blumensträußchen geschmückt, strickende Frauen, grelle Plakate und wieder Fahnen – ein Meer, ein Katarakt in Schwarz-Weiß-Rot. Die Luft ist erfüllt von der allgemeinen Prahlerei und den lärmenden Refrains der vaterländischen Lieder. »Deutschland, Deutschland über alles« und »Es braust ein Ruf wie Donnerhall …« Das Brausen hört gar nicht mehr auf. Jeden zweiten Tag wird ein neuer Sieg gefeiert. Das garstige kleine Belgien ist im Handumdrehen erledigt. Von der Ostfront kommen gleichfalls erhebende Bulletins. Frankreich, natürlich, ist im Zusammenbrechen. Der Endsieg scheint gesichert: die Burschen werden Weihnachten zu Hause feiern können.
Man diskutierte, welche Länder und Kolonien der Kaiser für das Vaterland annektieren würde. Fräulein Betty versprach uns China und Afrika, als handle es sich um Spielzeug. Affa strahlte, ständig von einer kleinen Armee uniformierter Stiefbrüder, Vettern und überraschend wohlerhaltener Onkel umgeben. Der fröhliche Lärm ihrer Abschiedsfeste widerhallte durch das ganz Haus. Mielein überlegte sich manchmal, ob sie nicht vielleicht doch einschreiten sollte, entschied sich aber dagegen. Krieg ist Krieg, und lange würde es wohl sowieso nicht dauern …
Unser blendender Kaiser, ebenso kapriziös wie heroisch, schob den Endsieg hinaus, wahrscheinlich um den lustigen Posten des Oberbefehlshabers etwas länger behalten zu können. Das war etwas ärgerlich wegen der Nachspeise, die vom täglichen Speisezettel gestrichen worden war. Wir hatten diese Maßregel als ein patriotisches Opfer vorübergehender Natur tapfer hingenommen, aber auf die Dauer wirkte das Fehlen von Pudding und Strudel sich ungünstig auf unsere Stimmung aus.
Unser Leben unterlag anderen Veränderungen, von denen einige erfreulich waren. Mielein klärte uns darüber auf, daß dies nicht nur große, sondern außerdem recht schwierige Zeiten waren. Das neue Stadthaus, das wir gerade noch vor Ausbruch des Krieges bezogen hatten, war geheimnisvoll belastet mit einer Art von Makel oder Fluch, der »Hypothek« hieß. Eine gewisse Knappheit an barem Geld schien sich aus diesem unheimlichen Zustand irgendwie zu ergeben. Zwei mächtige Greise, Ofey und der Verleger S. Fischer in Berlin, wurden in diesem Zusammenhang oft erwähnt – manchmal mit Hoffnung, dann auch wieder mit einer gewissen Bitterkeit. Sowohl der Großvater in seinem Schloß als auch der Berliner Freund des Zauberers, Herr Fischer mit der dicken Unterlippe, verhielten sich irgendwie störrisch und unzugänglich, wahrscheinlich unter dem Einfluß der allgemeinen patriotischen Hochspannung und Nervosität. Was immer die psychologischen Hintergründe und Zusammenhänge, jedenfalls lief es darauf hinaus, daß die beiden alten Herren plötzlich überhaupt kein Geld mehr hergeben wollten. Der Zauberer, vornehm zerstreut, schien dies kaum zu bemerken, aber Mielein war um so besorgter, sie entließ eines der Mädchen und das Kinderfräulein. Erstere vermißten wir kaum, und, wie sich denken läßt, waren wir nur zu froh, letztere los zu sein.
Das ungebundene Leben ohne Fräulein und süße Speise hatte entschieden seine amüsanten Seiten, brachte aber auch Härten mit sich. Mieleins nächste Sparmaßnahme bestand darin, uns von dem exklusiven Reichenschülchen in die gewöhnliche Volksschule in der Nachbarschaft zu versetzen. Erika und ich wurden getrennt. Sie etablierte sich schnell als eine Art von Anführerin und Häuptling unter den Mädchen, während meine Position in der Bubenklasse irgendwie unsicher blieb. Erstens konnte ich, im Gegensatz zu Erika, den Münchener Dialekt nicht sprechen; irgendwie wollte es mir nicht gelingen, auch nur ein Wort des landesüblichen kehlig-rauhen Idioms glaubwürdig hervorzubringen. Meine Klassengenossen hielten mich deshalb für einen »Saupreußen«, was fast ebenso schlimm war wie ein feindlicher Ausländer. Außerdem nahmen sie mir meine künstlerische Aufmachung und meine Abneigung gegen