Der durchschnittliche deutsche Untertan wußte kaum etwas von diesen geistigen Vorgängen und Tendenzen, die für ihn einfach ins Gebiet des Kriminellen gehörten. Der Untertan glaubte immer noch an den Sieg und an die Rechtlichkeit der deutschen Sache. Indessen läßt der Geist der Wahrheit und der Vernunft sich doch niemals ganz unterdrücken; er sickert durch verborgene Kanäle und teilt sich schließlich dem Bewußtsein der Nation, dem Kollektivgewissen mit.
Ich war noch nicht ganz acht Jahre alt, als der Krieg begann, und gerade zwölf, als er endete. Aber selbst mein unerfahrener Sinn blieb nicht unberührt von jenen noch halb geheimen, noch unterirdischen Strömungen, die zu der offiziellen Kriegsideologie in so verwirrendem und erregendem Widerspruch standen. Zuerst war es nur eine leichte Beunruhigung, eine Ahnung, die sich allmählich in mir vertiefte und festere Formen annahm. Der langsame Prozeß dieses intellektuellen Erwachens wurde beschleunigt durch die Lektüre eines Buches, welches mir unsere Offi, ihrerseits entschieden pazifistisch eingestellt, zum Weihnachtsfest des Jahres 1917 überreichte. Berta von Suttners klassischer Anti-Kriegs-Roman »Die Waffen nieder« ist gewiß kein literarisches Meisterwerk; aber wie sentimental und platt seine Handlung und sein Stil auch sein mögen, das starke und echte Pathos dieses innig empfundenen Appells wirkte mächtig auf meinen empfänglichen, empfangsbereiten Geist. Es war teilweise oder größtenteils dank dem eloquenten Zuspruch der Berta von Suttner, daß ich damals anfing, gewisse fundamentale Tatsachen zu begreifen und gewisse primäre Fragen zu stellen. Konnte es sein, daß unsere Lehrer und die Zeitungen und sogar der Generalstab versucht hatten, uns dreieinhalb Jahre lang an der Nase herumzuführen? Tag für Tag, seit August 1914, war uns versichert worden, daß der Krieg erstens etwas Schönes und Erhebendes, zweitens etwas Notwendiges sei. Die österreichische Pazifistin aber überzeugte mich von der Abscheulichkeit und von der Vermeidbarkeit des organisierten Massenmordes. Mir wurde klar, daß die Katastrophe hätte verhindert werden können, wenn unser Kaiser etwas weniger schneidig und draufgängerisch gewesen wäre. Die Verantwortung lag also nicht ausschließlich bei unseren Feinden, wie man uns so oft versichert hatte. Vielleicht waren diese Feinde auch in anderer Hinsicht weniger schlimm, als die nationalistische Propaganda sie darstellte? Vielleicht waren sie in Wirklichkeit gar keine Bestien und Untermenschen, sondern einfach nur – Menschen?
Solche Gedanken waren gewagt bis zum Blasphemischen. Sie stellten alles in Frage, was uns bis dahin als Axiom gegolten hatte, das ganze System der anerkannten Prinzipien und Ideale. Denn wenn es sich so verhielt, daß die Menschen überall menschlich waren, in welchem Lande sie auch leben mochten – wer hatte sie dann gegeneinander aufgehetzt? Wer hatte den Krieg gewollt und sich an ihm bereichert? Wo saßen die Kriegsverbrecher?
Wir hörten wirre und erregende Geschichten von einer Revolution, die irgendwo weit weg, in Rußland, stattgefunden haben sollte. Das Volk dort hatte seinen Zaren umgebracht und sich der Generäle entledigt. Wenn solche Ungeheuerlichkeiten überhaupt möglich waren – konnten sie sich nicht anderswo wiederholen? Wie, wenn das deutsche Volk es sich einfallen ließe, dem russischen Beispiel zu folgen und mit unserem gar zu schneidigen Kaiser ebenso zu verfahren wie jene mit ihrem Zaren?
»Revolution! Lastwagen voll Soldaten rasen durch die Straßen; Fensterscheiben werden eingeschlagen; Kurt Eisner ist Präsident … Es klingt alles so phantastisch, so unglaubwürdig. Und doch ist es irgendwie schmeichelhaft, sich vorzustellen, daß die Leute später über unsere bayerische Revolution mit demselben Ernst sprechen werden wie über Danton und Robespierre. Leider konnten wir die Vorstellung des Zauberkünstlers Uferino nicht besuchen. Das war eine Enttäuschung. Aber sonst war der Geburtstag sehr schön. Ich besitze jetzt die Gesammelten Werke von Kleist, Grillparzer, Körner und Chamisso. Eigentlich schon eine ganze Menge.«
Dies sind die Eröffnungszeilen eines Tagebuches, das ich von 1918 bis 1921 mit bemerkenswerter Gewissenhaftigkeit führte. Das hübsche ledergebundene Büchlein wurde mir am 9. November 1918 als Geburtstagsgeschenk überreicht. (Der 9. November ist eigentlich Erikas Geburtstag; aber während unserer ganzen Kindheit feierten wir unsere Geburtstage zusammen, wie Zwillinge. In Wirklichkeit bin ich ein Jahr und neun Tage nach meiner Schwester geboren.)
Die nächste Eintragung, vom 11. November, lautet folgendermaßen: »Der Waffenstillstand ist unterzeichnet. Endlich Frieden! Aber was jetzt? Wir treiben einer Katastrophe entgegen. Die Schule hat wieder angefangen. Unser Professor wurde furchtbar wütend, weil so viel Lärm war und weil Deutschland mit seinen ruchlosen Feinden Frieden schließen muß. Gestern abend las Mielein uns eine sehr komische Geschichte von Gogol vor. Ich las das Trauerspiel ›Sühne‹ von Theodor Körner. Erbärmliches Zeug.«
Erstaunliches geschah. Unser Kaiser floh in Nacht und Nebel über die Grenze, nach Holland. Auch der große Ludendorff und andere Helden machten sich aus dem Staube. Es war alles sehr überraschend und nicht ganz leicht zu verstehen. Deutschland war geschlagen, und doch auch wieder nicht. Unser Professor sagte, es läge nur am »Dolchstoß«, für den die Juden und die Spartakisten verantwortlich seien. Die waren unserem Kaiser in den Rücken gefallen, gerade als alles zum besten stand und wir den Endsieg gleichsam schon in der Tasche hatten. Für den Professor gab es keine deutsche Niederlage, ebensowenig wie eine deutsche Republik. Auch diese war nur ein israelitisch-bolschewistischer Trick, teuflisch ersonnen, um das Vaterland endgültig in den Ruin zu treiben …
Etwas stimmte nicht mit dem Frieden; niemand schien sich seiner zu freuen, die Leute sahen eher noch verdrossener aus als während des Krieges. Auch der Schlagrahm, lang erhofftes Friedenssymbol, trat zunächst nicht in Erscheinung. Das Essen war im Winter 1918/19 mindestens ebenso schlecht wie während der letzten Kriegsjahre.
Und warum wurde immer noch so viel geschossen? Vor dem Waffenstillstand hatte man nur »draußen« gekämpft, im Schützengraben; jetzt aber knallte es in bedrohlicher Nähe.
Am 21. Februar 1919 wurde gerade um die Ecke von unserem Schulgebäude der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner erschossen. Meine Tagebuchnotizen, diesen Vorfall betreffend, zeichnen sich durch ein etwas unbeholfenes Pathos aus. Es heißt da, daß ich um den Ermordeten »bittere Tränen« vergossen hätte, eine Behauptung, die etwas übertrieben gewesen sein mag, aber kaum so völlig aus der Luft gegriffen, wie die Meinen vermuteten. Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß gerade diese Aufzeichnung im Familienkreise bekannt wurde (ich hielt mein Tagebuch meist sorgfältig versteckt); aber ich erinnere mich, daß ich wegen der »bitteren Tränen« viel geneckt wurde. Was mich zu diesem rhetorisch-stilisierten Erguß veranlaßt hatte, war wohl nicht so sehr mein Kummer über Eisners Tod, wie mein Ekel vor dem Zynismus, mit dem die Münchener Spießer, einschließlich meine Lehrer und Klassengenossen, die Todesnachricht begrüßten. Der Ministerpräsident, ein salbungsvoller Intellektueller mit Schlapphut und Christusbart, war nicht populär gewesen; man freute sich, den »artfremden« Weltverbesserer und Menschheitsfreund los zu sein. Der Mörder, ein Kavalier aus dem gräflichen Hause Arco, wurde von den Massen als ein Held bejubelt, während dem Opfer nur von der radikalen Linken gehuldigt ward. Einer von Eisners Freunden, Heinrich Mann, schloß seine Grabrede mit der Bemerkung, daß der Tote den Ehrennamen eines »Zivilisationsliteraten« verdiene.
Das hektische Zwischenspiel der kommunistischen Diktatur in Bayern war eine unmittelbare Folge des Eisner-Mordes. In meiner Erinnerung wird diese kurzlebige »Räte-Republik« zur wüsten Farce. Ein grelles, klirrendes Tohuwabohu von schreienden Plakaten, Steinwürfen, Menschenansammlungen, improvisierten Rednertribünen, roten Fahnen und offenen Lastwagen voll verwegener Gestalten mit roten Armbinden. Die ganze Sache hatte einen Beigeschmack von wilder »Gaudi« (um den Münchener Dialektausdruck zu benutzen, der hier besonders am Platze scheint), etwas Unernstes, Karnevalistisches. Freilich ging es bei