Als der Vater ihr in gemessenen Tönen befahl, die verschlossene Tür zu ihrem Zimmer zu öffnen – »und sei es auch nur, um die erstaunlichen Anschuldigungen der Köchin zu widerlegen!« –, ward keine Widerrede von Affas Seite gehört: sie gehorchte. Die Chronik vermerkt, daß ihr Gesicht sehr bleich war, während sie sich langsam der Türe näherte, und daß sie hörbar mit den Zähnen knirschte. Schon mit der Hand auf der Klinke, rief sie noch, den rechten Arm feierlich erhoben, wie zu einem Schwur: »Ich bin unschuldig! Dem Herrn Professor wird's noch einmal leidtun, daß er mich jetzt verdächtigt!« eine Bemerkung, die fast wahnsinnig in ihrer Absurdität erscheint, angesichts der gehäuften Schuldbeweise, die meine Eltern hinter der mysteriösen Tür erwarteten.
Da waren sie, Schrank und Kommode füllend, in Pappkartons verstaut, in Winkeln aufgeschichtet: all die Gegenstände, die man vergeblich gesucht und schließlich verloren geglaubt hatte: Regenschirm und Seife, die guten Handschuhe, die Manschettenknöpfe, ach, und was sonst noch alles! Gummischuhe und Salatschüsseln, Spitzentücher und Cervelatwürste, Puppen und Aschenbecher, Juwelen und alte Fetzen: nichts war Affas rasender Raffsucht zu gering oder zu kostbar gewesen. Offenbar, es war der Raub von Jahren, vielleicht von Jahrzehnten, der sich hier in wirrem Durcheinander stapelte. Was tat die Kleptomanin mit ihren Schätzen? Vergnügte sie sich damit, nachts in Haufen von gestohlenen Krawatten, silbernen Teelöffeln und französischen Luxusausgaben zu wühlen? Schmückte sie sich allein vor dem Spiegel mit dem goldenen Kettchen, das Erika zur Taufe von Omama bekommen hatte und das in grauer Vorzeit rätselhaft verschwunden war?
»All das gehört mir!« behauptete Affa schrill, während die Eltern noch starr und sprachlos vor Entsetzen standen. »Alles mein Eigentum!« Wobei sie das Zimmer samt seinem phantastischen Inhalt mit einer weit ausholenden, wilden und gierigen Geste an sich zu ziehen schien. »Rühren Sie mir nichts an, gnä' Frau! Hände weg, Herr Professor!«
Sie stritt um jeden einzelnen Gegenstand, eine Megäre mit grün flammendem Blick. »Das ist mein Spazierstock!« kreischte sie. »Der Herr Professor hat vielleicht einmal einen ähnlichen gehabt, aber dieser da ist mir heilig, ein Andenken von meinem Cousin … bei Verdun gefallen … so eine Gemeinheit … jetzt will man mir den Stock von meinem seligen Xaver nehmen … meinem Bräutigam … an der Ostfront umgekommen … das einzige, was mir von ihm geblieben ist …«
Der Vater vergaß den Spazierstock, da er unter einem Haufen bestickter Tischtücher drei Flaschen seines lieben Burgunderweines entdeckte, die gute Friedensmarke, die es schon so lang nicht mehr gab! »Mein Burgunder!« rief er, herzlich bewegt, wie beim Wiedersehen mit einem alten Freunde.
» Mein Burgunder!« heulte die Affa. »Ein Geschenk meines verstorbenen Onkels …«
Es war anläßlich des Streites um den roten Wein, daß Affa die Hand gegen den Vater hob. Ja, das Ungeheuerliche geschah: sie schlug nach ihm mit geballter Faust und hätte ihm vielleicht das Nasenbein zertrümmert, wäre er nicht mit überraschender Geistesgegenwart beiseite gesprungen. Immerhin traf sie seine linke Schulter, woraufhin er, nach übereinstimmendem Bericht aller Chronisten, vernehmlich: »Au!« sagte. Einige Historiker wollen wissen, daß er nach kurzem Nachdenken auch noch hinzufügte: »Da hört sich aber wirklich alles auf!«
Ganz entschieden, Affa war zu weit gegangen. Nicht nur die Eltern spürten es, sondern auch Fanny, die Köchin. Diese schlich sich zum Telephon und flüsterte der Polizei die schreckliche Kunde ins Ohr: »Eine ganz gefährliche Kriminelle im Haus vom Herrn Doktor Mann … unsere Josepha … ja, die Affa … sie schlägt um sich … Lassen Sie sie nur gleich abholen … ja … man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher … Der Herr Professor liegt schon in seinem Blut …«
Affa hatte sich am Herrn des Hauses vergriffen! Es war das Äußerste, die Katastrophe. Es war Revolution …
Affa – blasphemisch aufgeputzt in Mieleins schönstem Hut, glitzernd mit Offis Schmuck, trunken von Ofeys Wein, Zauberers Spazierstock schwingend: so endet eine Welt, so bricht eine Ordnung zusammen, so beginnt die Apokalypse …
Nachträglich stellte sich heraus, daß Affa nicht nur eine Diebin gewesen war, sondern auch eine Messalina. Wir wurden bombardiert mit Telephonanrufen und anonymen Briefen. Die ganze Nachbarschaft hatte sich über unsere Langmut gewundert. Jede Nacht ein anderer Soldat! Wie konnten wir so skandalöses Treiben dulden?
Eine ehrbare Witwe, tragisch und imposant im altmodischen Trauerkostüm, ließ sich bei Mielein melden und erfüllte den Salon mit ihren Klagen. Affa hatte den Gatten der Witwe erst korrumpiert, dann in den Selbstmord getrieben. »Die hat's faustdick hinter den Ohren«, konstatierte die Matrone, nicht ohne gramvolle Anerkennung.
Ich begann, Affa zu bewundern. So viel Verderbtheit war eindrucksvoll. Einen schlechten Menschen kann man verurteilen und verachten; aber für das Symbol aller Schlechtigkeit, den Ausbund aller Laster empfindet man eine Art von bestürztem Respekt, in welches sich Mitleid mischt.
Ja, man empfindet auch Mitleid. Denn man begreift, oder ahnt es doch, daß Affa ein Opfer der allgemeinen Auflockerung und Erschütterung, daß sie ein Kriegsopfer ist. Ihr moralisches Gleichgewicht war nicht stark genug, um der Woge von Korruption und Roheit zu widerstehen, die über den Kontinent hinging und seine sittlichen Grundlagen unterminierte. Warum sollte sie nicht jede Nacht den Geliebten wechseln, da er doch vor dem nächsten Rendezvous getötet werden konnte? Warum sollte sie nicht stehlen und lügen und Unzucht treiben, da die göttlichen Gebote offenbar außer Kraft gesetzt waren? Wäre sie in eine friedliche und ordentliche Welt hineingeboren worden – wer weiß, sie hätte vielleicht geheiratet und ein vernünftiges Leben geführt. Aber dies war eine fürchterliche Zeit, und so ward unsere Affa fürchterlich.
Es schien nicht ohne Logik, wenngleich doch auch wieder überraschend, daß die Richter sie freisprachen von jeder Schuld. Denn so geschah es: Affa gewann den Prozeß. Sie repräsentierte die unterdrückte Klasse, das Proletariat; sie log mit Schwung und großer Überzeugungskraft. Der Gerichtssaal war bezaubert von ihrem derben Witz, ihrer volkstümlichen Schlagfertigkeit. Sie beherrschte die Szene, glitzerte und triumphierte, Mielein und Zauberer wären am liebsten in den Erdboden versunken, da Affa auf den Burgunder zu sprechen kam. Mit rührender Eloquenz beschrieb sie, wie man versucht hatte, sie des Rotweins zu berauben: »nur drei kleine Flascherln – das einzige Andenken, wo ich hab von meinem Stiefbruder, dem seligen Fregattenkapitän, und da kommen diese Preußen daher, diese Ausbeuter, diese Großkopfeten, und wollen mir die drei Flascherln auch noch nehmen, wo's doch den ganzen Keller voll haben von Schampus und Schnaps und was s' alles saufen …« Aus dem Publikum kamen Rufe des Abscheus, des Protestes. Je mehr die armen Eltern in sich zusammensanken, desto sieghafter strahlte Affa.
Sie trug eine knapp anliegende Bluse aus grünem Atlas, unter dessen straffer Glätte ihr bedeutender Busen sich besonders schön profilierte; dazu funkelnde Ohrgehänge und einen hohen spanischen Kamm in der sorgsam gewellten Frisur. Merkwürdigerweise ward diese pompöse Aufmachung allgemein als ein natürliches Attribut ihrer revolutionären Würde akzeptiert. Sogar die Köchin, die doch als erste Affa bezichtigt hatte, fand nun nicht den Mut, ihre Beschuldigungen öffentlich zu wiederholen. Es war ein vollkommener Triumph für die Angeklagte, der köstlichste Augenblick ihres Lebens. Von ihrer festlich erhitzten Stirn kam ein Leuchten, da sie sich nun erhob, zugleich Siegerin und Märtyrerin. Erhobenen Hauptes, mit eindrucksvoll geblähtem Atlasbusen verließ sie die Anklagebank und schritt auf den Ausgang zu – nicht ohne, von der Tür her, noch einen schrecklichen Blick auf das mausgraue Paar zu schleudern, das mit verdutzten Mienen zurückblieb.
War dies der letzte Akt von Affas Drama? Leider nicht. Es sollte noch ein trübes Nachspiel geben. Ihre Glorie verging, so schnell wie sie entstanden war. Sie wurde ein Spuk, der die Familie heimsuchte, zu der sie sich einst hatte rechnen dürfen. Zur Stunde der Dämmerung, wenn Himmel und Dinge blaß werden, sahen wir die Affa durch die Straßen unseres Viertels streifen. Je näher der Abend kam, desto näher wagte sie sich an unser Haus. Sie umkreiste den Garten, in dem sie Blinde Kuh