DAS GESCHENK. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847628156
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      „Und meinen Vater auch nicht“, brummen Fleur und ich im Chor.

      Fleur seufzt, während sie aufsteht. Ihre Eltern signalisieren ihr gerade mit heftigen Gesten, dass das Essen serviert wurde.

      Pauline und ich folgen Fleur mit schweren Schritten, wie Gefangene an einer Kugelkette. Wie sollen wir dieses Wunder nur bewerkstelligen? Nur Felix tänzelt um uns herum als gäbe es überhaupt keine Probleme. Gibt es für sie ja vielleicht auch nicht. Mit bleischweren Gedanken gehe ich an den Tisch meiner Eltern, wo gerade für alle das Abendmenu zwei serviert wird. Woher ich das weiß? Weil wir immer das Abendmenü zwei nehmen – und wir nehmen auch nie an Schönheitswettbewerben teil!

      04 DER WÄCHTER

      Das Strandrestaurant des Neptune war wie jeden Abend gut besucht, aber in der letzten Reihe gab es auf einer Empore ein paar Tische, die über die ganze Terrasse hinweg einen guten Ausblick auf den Strand und das Wasser boten. Wem es nicht darum ging, gesehen zu werden, sondern selbst zu beobachten, der war hier bestens platziert, deswegen hatte er sich auch heute Abend wieder diesen Tisch reservieren lassen.

      Weit draußen auf Reede lagen ein paar große Yachten, die auf dem schimmernden Meer eine imposante Kulisse für den nahenden Sonnenuntergang abgaben. Er wusste nicht von allen die Namen, aber einige der Luxuskreuzer waren ihm so vertraut, dass er sie selbst aus dieser Entfernung mit Leichtigkeit erkennen konnte: Da war die Medusa, die mit ihrem hohen Aufbau fast alle Schiffe in ihrer Umgebung überragte, die gestreckte Silhouette der Habanera, einem der schnellsten Schiffe auf den Weltmeeren, und die gigantische Masse der Recife, die unter brasilianischer Flagge lief.

      All das waren Yachten, die den mächtigen Familien des Alten Bundes gehörten, einschließlich des 140-Meter-Kreuzers seiner Eltern, auf dem er praktisch aufgewachsen war. Die anthrazitfarbene Manhattan mit den silbergrauen Aufbauten war jahrelang seine Heimat gewesen, der einzig feste Punkt in einer ständig wechselnden Umgebung. Auf ihren Planken hatte er an der Seite seiner Eltern sämtliche Kontinente bereist, immer auf der Flucht vor den eigenen Erinnerungen.

      Erst vor zwei Jahren, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, hatten seine Eltern es wieder über sich gebracht, eine Villa im Hinterland von Grimaud anzumieten. Er selbst zog es zum Ärger seiner Familie vor, in einem der besseren Hotels in der Nähe des Wassers zu wohnen.

      „Bonsoir, Monsieur Montenaux!“ Der Kellner war herangekommen und stand nun mit gezücktem Bestellblock neben dem Tisch. „Was darf ich Ihnen bringen?“

      Der Mann riss sich aus seiner Nachdenklichkeit heraus und sah den Kellner kurz an. „Drei kleine Medallions vom Loup de Mer mit etwas Salat“, bestellte er. „Und Wasser bitte.“

      „Sehr wohl!“ Der Kellner deutete eine Verbeugung an und wandte sich dem nächsten Tisch zu.

      Für so eine extrem teure Gegend wie die Côte d’ Azur war die Strandbar des Neptune-Campingplatzes eine erstaunlich gute Adresse. Wenn es auch tagsüber nur das übliche Einerlei von Beignets, Pommes frites und Panini zu den Getränken gab, so wurde die einfache Bar am Abend zu einem Restaurant, dessen Angebot sich sehen lassen konnte. Außerdem waren die Preise nicht besonders hoch und die Außenterrasse lag direkt zwischen einem hübschen, kleinen Pinienwäldchen und dem Strand. Entsprechend gut war das Lokal besucht. Sämtliche Tische waren besetzt und die Angestellten hatten alle Hände voll zu tun.

      All das interessierte den jungen dunkelhaarigen Mann auf der Empore aber erst in zweiter Linie. Ihm ging es nicht nur um das vorzügliche Essen, und auf die Preise brauchte er nun wirklich nicht zu achten. Ihm war es vor allem wichtig, unauffällig unter Menschen zu sein, ohne ihnen allzu nahe zu kommen. Fast sein ganzes, bisheriges Leben hatte er isoliert auf der Yacht seiner Eltern verbracht, und er hatte sich noch nicht wirklich daran gewöhnen können, jetzt ein halbwegs normales Leben zu führen.

      Normal, das war das Wort, um das seit jenem unseligen Nachmittag am Pool seiner Eltern all seine Gedanken kreisten. Wie oft hatte er sich gewünscht, wie ein ganz normaler Junge in irgendeiner Vorstadtsiedlung leben zu dürfen, mit Eltern, die einer normalen Arbeit nachgingen und einem ganz normalen Schulalltag. Warum hatte er nicht normal aufwachsen können: mit schlechten Schulnoten, Krach zuhause und vielleicht mit ersten, zaghaften Erfahrungen mit Mädchen, mit vierzehn oder fünfzehn? Warum klebte dieser Fluch an ihm, etwas Besonderes zu sein, sodass er bis jetzt fast wie ein Mönch oder wie ein Gefangener hatte aufwachsen müssen?

      Er hatte nie eine Antwort auf diese Fragen gefunden, weil es keine Antwort gab. Er war in dieses Leben hineingeboren worden, ohne gefragt worden zu sein und jetzt musste er sehen, dass er irgendwie damit zurechtkam.

      Andererseits gibt es aber kaum einen Schmerz, den man mit ein paar Millionen Dollar nicht erträglicher machen kann. Manchmal dachte er ernsthaft darüber nach, ob er wirklich bereit war, den Lebensstil, der ihm in die Wiege gelegt worden war, aufzugeben. Die Antwort war nein, denn sonst hätte er es ja spätestens jetzt tun können. Zudem hätte sich die Normalität ja auch nur auf gewisse Äußerlichkeiten beschränkt. Die Gabe, die er erhalten hatte, wäre doch geblieben. Sie war zum Fluch geworden und die Bedürfnisse, die sich daraus ergaben, hätte er nicht abstreifen können. Er war völlig davon durchdrungen und es gab nicht den Schatten einer Chance, diesen Aspekt aus seinem Leben auszuklammern.

      Viel zu ernste Gedanken für einen so schönen Sommerabend! Fast gewaltsam riss er sich aus seinen düsteren Betrachtungen heraus und schaute auf das bunte Treiben, das im Restaurant herrschte: Die große Terrasse des Lokals war voll besetzt, nur hier und da waren Paare allein am Tisch. Teenies lehnten sich weit auf ihren Stühlen zurück und alberten mit ihren Freunden und Freundinnen an den Nachbartischen herum, während ihre kleineren Geschwister durch die Gänge flitzten und sich die Zeit vertrieben, bis das Essen serviert wurde.

      Etwas störte das friedliche Bild: Der gutaussehende, sportliche Mann, der sich vom Strand her der Terrasse näherte, wäre für das abendliche Panorama durchaus verzichtbar gewesen. Noch war er recht weit entfernt, aber die kraftvollen Bewegungen und die für den Zeitgeschmack etwas zu langen, schwarzen Haare ließen keinen Zweifel zu.

      Der Mann auf der Empore kniff die Lippen zusammen und bereitete sich auf den üblichen Schlagabtausch mit Adriano, seinem Cousin vor.

      Adriano war es gewesen, der den Jungen an jenem Nachmittag, an dem das Mädchen hatte sterben müssen, ins Haus gezerrt hatte, und er war es auch gewesen, den die Familie als Wächter eingesetzt hatte, damit so etwas nie wieder vorkam. Es hatte Adriano zwar keinen Spaß gemacht, aber er hatte seine Aufgabe ernst genommen. Über zehn Jahre lang hatte der Junge kaum einen Schritt tun können, ohne von Adrianos Leuten beobachtet zu werden.

      Mittlerweile hatte die Überwachung nachgelassen. Die Familie traute es ihm jetzt wohl zu, sich zu beherrschen, oder die Probleme selbst zu regeln, falls es wieder zu einem Zwischenfall kommen sollte. Trotzdem kam Adriano ab und zu vorbei, um nach dem rechten zu sehen. Er tat das bestimmt nicht freiwillig, und diese ständige Überwachung hatte im Lauf der Jahre auf beiden Seiten einen schwelenden Hass herangezüchtet. Bewachter und Wächter vertrugen sich nicht. Sie kamen einfach nicht miteinander aus.

      Adriano hatte die Terrasse erreicht. Ein blondes Mädchen von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren lief zwischen den Tischen hindurch, war etwas unachtsam und hätte ihn um ein Haar angerempelt. Ohne seinen Schritt auch nur für einen Sekundenbruchteil zu verlangsamen, nahm er das Mädchen blitzschnell bei den Schultern und stellte es einfach zur Seite. In diesem winzigen Moment hätte man sehen können, welch enorme Kraft und Reaktionsfähigkeit in diesem schlanken Körper wohnten, aber an den umliegenden Tischen bemerkte niemand etwas davon.

      Das Mädchen sah Adriano einen Moment lang verwundert nach und ging dann langsam weiter.

      „Diego! Was für ein Zufall!“ Adriano hatte den Tisch erreicht und schaute mit gespielter Freude auf seinen Cousin hinab. Sein Grinsen glich eher den hochgezogenen Lefzen eines angriffslustigen Hundes.

      „Ja, die Welt ist ein Dorf“, grüßte Diego lahm. Er machte gar nicht erst den Versuch, Freude zu heucheln.

      „Und das Dorf