DAS GESCHENK. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847628156
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mir die blaue Elise wohl nicht ganz uneigennützig geschenkt haben. Ich bin es nämlich, die jeden Morgen durch diese stinkende Blechlawine im Slalom in den Ort fahren wird, um Baguette und frische Croissants zu holen. Oh Mann, die Aussichten werden wirklich immer toller.

      Endlich erreichen wir unseren Campingplatz und finden auch einen netten Autofahrer, der uns eine Lücke lässt, um nach links abzubiegen. Wir verlassen die Küstenstraße und den Verkehrslärm.

      Das erstaunt mich jedes mal wieder. Die Einfahrt zum Campingplatz ist mit hohen Pinien und Oleanderbüschen gesäumt und hinter dem Eingangstor beginnt eine andere Welt: Schattige Bäume, Büsche, Blüten, Rasenflächen und sandige Wege. Der Lärm der Zikaden verschlingt den Verkehrlärm fast vollständig.

      Wie jedes Jahr haben wir rechtzeitig unseren Platz nahe am Wasser reservieren lassen.

      Nachdem Papa an der Rezeption die alljährliche Begrüßungszeremonie hinter sich gebracht hat, kommt er mit unserer Chipkarte zurück, mit der man das Eingangstor Tag und Nacht öffnen kann. Nur noch ein paar Meter, dann sind wir endlich da.

      Langsam fahren wir die schmalen Wege entlang zu unserem Platz. Es ist derselbe wie jedes Jahr, deswegen finden wir ihn auch problemlos. Trotzdem ist Didier ausgestiegen und macht den Führer. Er winkt nach hier und zeigt nach da und freut sich, so ein wichtiges Amt bekleiden zu können. Soll er, ich will nur noch eins: ins Wasser! Und zwar so schnell wie möglich.

      Verdammt! Ich ducke mich unwillkürlich auf meinem Sitz zusammen, denn etwas hat uns erkannt und verfolgt uns, etwas, das sofort, nachdem wir das Auto verlassen haben, erbarmungslos über uns herfallen wird, etwas Grausames, schrecklich Unerbittliches, das uns nicht so schnell aus seinen Fängen lassen wird: Monsieur Bardane!

      Wir sind da. Zögernd öffne ich die Tür und sehe mich vorsichtig um. Natürlich! Er kommt uns nach und ist keine zehn Meter mehr entfernt. Meine Eltern haben ihn auch gesehen und gehen schnell ein paar Schritte, um den Stellplatz zu begutachten. Oh bitte nein! Jetzt wendet er sich natürlich mir zu! An Flucht ist nicht zu denken!

      „Hallo Lana!“ Ein grünes Sonnenhütchen mit spindeldürren O-Beinen, die in Sandalen mit weißen Sportsocken stecken, kommt auf mich zugewackelt. Die blaugeblümten, langen Badeshorts und den faltigen Bauch darüber übersehe ich, denn was mich bannt, ist sein Gesicht. Beschattet von seinem Hütchen leuchtet mir als erstes der goldene Eckzahn entgegen, der mich als kleines Mädchen immer so sehr erschreckt hat. Ich hatte immer Angst gehabt, er wolle mich damit beißen.

      In Wirklichkeit ist Monsieur Bardane gar nicht bösartig, sondern eigentlich sogar recht freundlich und hilfsbereit. Nur, er ist einfach wie eine Klette. Deswegen nennen wir ihn untereinander auch so – Bardane. Sein wirklicher Name lautet Georges Irgendwas. Er ist Rentner und kommt eigentlich aus Orleans. Den ganzen Sommer lang lebt er aber hier auf dem Campingplatz. Alle hier nennen ihn Georges. Er ist die wandelnde Platzzeitung, gewissermaßen die Paris Match des Camping Neptune. Er weiß alles und wenn er etwas nicht weiß, kriegt er es raus. Und er ist ein Geiselnehmer! Erwischt er dich, bist du verloren! Unter einer Stunde Smalltalk, in der man mit allen Neuigkeiten, ob man sie wissen will oder nicht, bombardiert wird, kommt man bei ihm nicht weg. Und das ist genau mein Problem! Ich – will – ins – Wasser!

      „Lana, hast du schon gesehen?“ Speichelfeuchte Küsschen rechts – links –rechts, leider auf die Wange und nicht in die Luft. „Das Plakat an der Rezeption? Die machen morgen am Strand einen Schönheitswettbewerb. Eine Miss-Teen-Beach-Wahl!

      „Ach ja? Da geh ich doch gleich mal gucken.“ Ich will mich wegdrehen.

      „Warte mal!“, stoppt die Klette mich. „ Alle Campingplätze beteiligen sich. Die ersten drei von jedem Campingplatz hier werden dann abends ins Les Sables eingeladen.“

      „Wow!“ Das beeindruckt mich nun wirklich. Das LS ist die größte, bekannteste und teuerste Disco hier in der Gegend. Ich war noch nie dort.

      „Pass auf!“, fordert die Klette. „Da wird dann die Teen-Miss-Port-Grimaud gewählt. Bei Champagner und Kaviar!“ Er jubelt fast und sein Mund macht schmatzende Geräusche. „Das wäre doch was für dich, so wie du aussiehst!“

      Bei diesen Worten mustert Monsieur Bardane meinen Körper auf eine Art, die mir ein seltsames Gefühl verursacht. Nichts gegen neue Verehrer, aber dieses grüne Hütchen macht wirklich alles kaputt.

      „Ach ja? Interessant“, stottere ich verlegen.

      „Ja, nicht wahr?“, grinst die Klette. „Da fällt mir ein, dass vor vier Jahren ...“

      „Monsieur Bar... äh Georges, setzten sie meiner Tochter keine Flausen in den Kopf“, mischt sich meine Mutter ein und erlöst mich damit aus meiner Geiselhaft. Arme Maman! Aber sie hat sich freiwillig in seine Fänge begeben, und er schnappt prompt zu: „Madame Rouvier! Schön, dass Sie da sind!“ Wieder wird er seine spuckenden Küsschen los. „Haben Sie schon gehört, dass im letzten Jahr, kaum dass Sie weg waren, ein Holländer einen Unfall hatte? Armer Kerl, er ...“

      Nun muss Papa wohl mit Didier alles alleine aufbauen. Mir egal! Ich schnappe mir mein Badehandtuch, winke Maman kurz zu und verschwinde in Richtung Strand.

      Auf dem Weg hinunter zum Wasser begleitet mich das Schrillen der Zikaden und vermischt sich mit dem Duft nach Pinien, Oleanderblüten und heißem Sand zu einem einzigen, guten Gefühl: Urlaub!

      Neugierig schaue ich nach allen Seiten, um zu sehen, ob ich jemand Bekanntes entdecke. Bis jetzt sieht es nicht gut aus, aber ich bin einfach zu schlapp, jetzt den ganzen Platz abzulaufen, um meine Freundinnen zu suchen. Ein wenig betrübt schlendere ich weiter zum Meer.

      Es ist immer wieder schön, auf den freien Strand hinauszutreten. Der nach Salzwasser duftende warme Wind umspielt meinen verschwitzten Körper und lässt ihn frösteln. Obwohl mir von der Fahrt noch ganz heiß ist, schaudere ich einen Moment und überlege, ob ich wirklich ins Wasser gehen soll. Aber schließlich löse ich mein Haargummi, ziehe mein Top und die Hotpants aus, lasse sie beim Handtuch und den Badelatschen liegen, renne los und stürze mich nach einer kurzen Abkühlung mit einem Kopfsprung ins Meer.

      Das warme Wasser umfängt mich wie eine gute alte Freundin, gleitet an meiner Haut entlang und lässt sie in einer leichten Gänsehaut erstarren, während ich tauche. Prustend komme ich wieder hoch, streife meine nassen Haare nach hinten und schaue mich um.

      Es sind nicht mehr viele Leute am Strand. Die meisten duschen wohl schon und machen sich fertig für das Abendessen. Ein älteres Ehepaar hockt auf seiner Decke und unterhält sich. Zwei Jungen spielen noch bei den Felsen rechts von mir. Ich erkenne Paul, Didiers Freund vom letzten Jahr. Also ist seine Schwester Celine wohl auch da, denke ich. Ich kann sie zwar nicht wirklich leiden, aber vielleicht bin ich in der letzten Woche ja doch nicht ganz alleine hier.

      Im Wasser ist außer mir niemand mehr. In schnellen Zügen schwimme ich zurück zum Strand und nehme meine Sachen mit zu der Dusche am Eingang zum Campingplatz.

      Natürlich steht Monsieur Bardane noch bei unserem Platz und redet auf meine Eltern ein, die sich abschuften, um das Vorzelt mit ein paar Spannleinen in eine einigermaßen akzeptable Form zu zwingen. „... lauter Turnschuhe in der Waschmaschine“, höre ich ihn sagen. „Und dann musste die Platzleitung die Maschine auch noch ...“

      Ich schalte meine Ohren auf Durchzug und helfe Didier, das alte Zweikabinenzelt aufzubauen, das jedes Jahr für ein paar Wochen unser Zuhause ist. Unser Auto ist schon mit einer großen, weißen Plane abgedeckt, damit die Sonne es tagsüber nicht allzu sehr aufheizt. Eingemottet! Dafür steht die Blaue Elise jetzt neben dem Wohnwagen. Wahrscheinlich freut sie sich schon auf die belustigten Blicke der Passanten, wenn wir unterwegs sind. Ich freue mich jedenfalls nicht darauf.

      Elise ist ein Geschenk meines Vaters, und ich hasse sie! Sie ist veraltet, hässlich und lächerlich! Keine Ahnung mit welchem Schrotthändler mein Vater da in Kontakt gekommen war, aber mehr als hundert Euro hat er für diese Ausgeburt einer kranken Fantasie niemals ausgegeben. Eher weniger. Viel weniger!

      Elise ist so etwas wie eine Kreuzung aus Moped, Roller und Supermarkt-Einkaufswagen. Sie ist kaum größer als ein Kinderfahrrad