DAS GESCHENK. Michael Stuhr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Stuhr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847628156
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das Ganze auch noch in einem verwaschenen, sehr hellen Babyschlüpferblau daher. Es ist grausam!

      In gewissem Sinn ist Elise allerdings erstaunlich: Der kleinste Dreh am Gasgriff lässt sie nach vorne schießen, dass es einem die Arme lang zieht, und die Kurvenlage ist so hervorragend, als würde sie auf klebrigen Walzen laufen, und nicht auf diesen lächerlich kleinen Schubkarrenrädern. - Jedenfalls ist sie das schärfste Stück Metall von ganz Paris. Soweit ich weiß, hat mein Vater das Ding nie gefahren, und ich denke, er würde ziemlich blass werden bei dem Gedanken, mit was für einer Rakete seine Tochter da unterwegs ist. Das ist ein Geheimnis, das ich mit Elise teile, und das soll es auch bleiben.

      Trotzdem kann ich sie nicht leiden. Besonders toll findet mein Vater es übrigens, dass Elise mit ihrem grotesk schmalen Lenker sogar durch die Tür unseres Wohnwagens passt, sodass ich selbst in den Ferien nicht darauf verzichten muss. Mit anderen Worten: Das Ding klebt an mir wie Hundekacke am Absatz und ich fürchte, ich werde es niemals loswerden, wenn ich nicht auswandere oder es mal versehentlich in die Seine plumpsen lasse.

      „Gehen wir nachher noch zu Barnabé?“, will Didier wissen, als unser Zelt endlich steht.

      „Klar doch!“, antwortet mein Vater.

      Barnabé ist der Wirt des Strandrestaurants und unser Haupternährer im Urlaub. Wir kochen nur selten im Wohnwagen. Tagsüber gibt es immer nur irgendwelche Häppchen, aber am Abend wird dann im Restaurant richtig getafelt. Wenigstens etwas, auf das ich mich freuen kann in diesem verkorksten Urlaub.

      „Ich gehe schon mal vor!“, gebe ich bekannt, nachdem ich schnell meine Schlafkabine eingeräumt und mich abendfein gemacht habe. Vielleicht treffe ich ja Fleur und Pauline, oder sonst irgendjemanden den ich kenne. - Bitte!

      02 DIE ALTE SCHULD

      Eigentlich hätte er mal wieder seine Eltern besuchen sollen, oder vielleicht wenigstens an seinem Aufsatz über präkolumbianische Kunst weiterschreiben. Eine Internetrecherche über die verschiedenen Szenarien der Golfstromentwicklung für seine Aufnahmeprüfung wäre auch eine Möglichkeit gewesen, die Zeit sinnvoll zu verbringen, aber stattdessen hatte er sich in seinen Wagen gesetzt und war einfach losgefahren. Er war sich völlig im Klaren darüber, dass es eine Flucht war. Eine Flucht vor dem Leben, das er zu führen gezwungen war, und das ihm schon lange nicht mehr behagte.

      Er war nicht besonders religiös erzogen worden. Zwar hatten seine Eltern darauf bestanden, dass er an einigen wichtigen Ritualen des Alten Bundes teilnahm, aber da war es mehr um die Einhaltung gesellschaftlicher Normen gegangen, als um echten Glauben.

      Es hatte ihm nichts ausgemacht, die alten Geschichten zu hören, nach deren Regeln sein Volk lebte. Sie waren voller Geheimnisse und eine zeitlang hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich selbst zum Prediger ausbilden zu lassen, um noch mehr über die Geschichte seines Volks zu erfahren, aber jetzt, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag, dachte er anders darüber. Zwar waren die alten Berichte und Legenden immer noch faszinierend, aber heute war er mehr an der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert, als am einfachen Weitertragen von Dogmen und Vorschriften.

      Er lenkte den Porsche von der Schnellstraße auf eine Nebenstrecke durch das hüglige Hinterland von Grimaud. Die Villa seiner Eltern lag keine zwanzig Kilometer von hier, aber er verwarf den Gedanken an einen spontanen Besuch sofort wieder. Zu lange waren sie seine Wächter gewesen und die Scheu, die er ihnen gegenüber empfand, war zu groß. Die Prediger hatten damals gesagt, dass er etwas von der Alten Schuld auf sich geladen habe, und so sah er sich selbst auch heute noch als den ewig Schuldigen, dem alle nur mit Misstrauen begegnen konnten.

      „Schuldig!“, stieß er zwischen den Zähnen hervor und rammte das Gaspedal in einer plötzlichen Wutwallung bis zum Anschlag. Der Wagen schoss nach vorne und in den nächsten drei Kurven brauchte er die volle Straßenbreite für sich. Der Porsche krallte sich mit wimmernden Reifen auf dem Asphalt fest und das Heck fing an, zur Außenkante zu drängen. Zum Glück war die Strecke nur wenig befahren, denn bei Gegenverkehr hätte er den Wagen sofort von der Straße reißen müssen, um nicht schon wieder zu töten. Er war dazu bereit. Seine Schuld und seine Träume fraßen so sehr an ihm, dass er ohne zu zögern zwischen die Bäume gerast wäre, die die Straße säumten; und wenn er ehrlich mit sich selbst war, legte er es sogar darauf an.

      Einen Kilometer weiter hatte er sich wieder etwas beruhigt und ließ den Wagen mit mäßiger Geschwindigkeit durch das Hügelland rollen. Die Schuld war immer noch spürbar, unauslöschlich in Geist und Seele eingebrannt, aber das Schicksal hatte seine Chance mal wieder gehabt, und es hatte nicht zugeschlagen. Er kniff die Lippen zusammen und wendete den Wagen, um zurück nach Port Grimaud zu fahren.

      Auf der Schnellstraße fuhr er betont langsam. Was war das bloß für ein Leben, in dem jeder Baum am Straßenrand und jeder Brückenpfeiler zur Verlockung wurden?

      03 IN DER STRANDBAR

      Die im Moment fast leere Bar des Neptune sieht aus wie immer, als ich durch den Sand herangeschlendert komme. Die große Terrasse ist mit einem riesigen Sonnensegel überdacht und die Grünpflanzen in den Kübeln ringsum sind kümmerlich wie eh und je. Schon von weitem sehe ich Fleur und Pauline an einem der Tische sitzen.

      „Hallo Lana!“ Fleur springt von ihrem Stuhl auf, kommt mir entgegen gerannt und nimmt mich zur Begrüßung in den Arm. „Der Urlaub ist gerettet!“, meint sie. „Pauline ist schon ganz trübsinnig, weil du nicht da warst.“

      „Äh, ja, hm ...“ Da weiß ich nun auch nicht, was ich sagen soll. Ich neige ein wenig dazu, mich für nicht so wichtig zu halten und reagiere immer etwas verlegen und trottelhaft auf so etwas.

      „Lana!“ Auch Pauline steht auf und nimmt mich in den Arm. Sie sieht wirklich etwas gestresst aus. Kein Wunder, bei den Eltern! Besonders von ihrer Mutter kriegt sie immer so viel Druck, dass ich mich schon lange frage, wie sie das auf Dauer aushält.

      „Jetzt ist das Team wieder komplett!“, freut Fleur sich, und als Pauline mich loslässt, ist ein Lächeln auf ihrem Gesicht, dass ich sie knuddeln könnte.

      Wir setzen uns an den Tisch und erzählen uns, was wir im vergangenen Jahr so gemacht haben, und vor allem, was unsere Pläne für diese Ferien gewesen wären. Wir stellen fest, dass wir alle eigentlich gar nicht hier sein wollten, aber jetzt, wo es anders gekommen ist, ist es auch gut.

      Die Frau von Barnabé kommt aus der Küche und fängt zusammen mit zwei Angestellten an, die Tische neu einzudecken, weil bald der Restaurantbetrieb beginnt. „Hallo, Lana“, grüßt sie mich und ich wünsche ihr auch einen guten Abend.

      Höflich räumen wir unseren Tisch, damit wir nicht im Weg sind und setzen uns auf die Kante der Terrasse. Ich ziehe mir die Ballerinas aus und bohre die nackten Füße in den warmen Sand. Was für ein tolles Gefühl. Endlich Urlaub.

      „Hast du eigentlich Pascal und Alain schon gesehen?“, will Fleur wissen.

      „Nö“, sage ich so beiläufig wie möglich und tue ganz uninteressiert. - So, Alain ist also auch da.

      „Da kommen sie nämlich gerade.“ Fleur zeigt mit dem Kinn die Richtung an.

      Mein Kopf ruckt herum, und tatsächlich, da stiefeln sie durch den Sand auf uns zu.

      Pascal und Alain sind alte Stammgäste auf Neptune, genau wie wir. Der schlanke Alain ist, wie ich auch, Siebzehn. Er wird von Jahr zu Jahr hübscher. Sein Bruder Pascal entwickelt sich mehr und mehr in Richtung Wasserbüffel - so stark und auch genauso stupide. Er ist der Ältere und Langweiligere und sieht immer ein wenig verdrießlich aus. Alles an ihm ist Muskel und Kraft. Ob er wohl Bodybuilding macht? Ich vermute es fast.

      Alain winkt uns zu und macht ein paar kleine Hopser, als er mich entdeckt. Er ist lustig wie eh und je, während Pascal mal wieder die Spaßbremse macht und mit finsterem Gesicht grüßend die Hand hebt.

      „Schön, dass du da bist, Lana“, strahlt Alain mich an und setzt sich neben Fleur auf den Rand der Terrasse, während Pascal irgendetwas