Marschall Bazaine Hochverrat. Rainer V. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer V. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742763167
Скачать книгу
Vornhinein in jedem Angeklagten einen Schuldigen zu sehen.

      Jedermann lässt aber auch dem Herzog vollständige Gerechtigkeit widerfahren und die Republikaner, welche Anfangs gegen seine Ernennung als eine ungerechte Bevorzugung demonstrierten und die den Saal mit nichts weniger als sympathischen Gefühlen betraten, singen jetzt am lautesten sein Lob. Die sachkundigen Juristen bewundern seine Schlagfertigkeit und die Damen im Publikum sind von dem eleganten Schliff seines ganzen Wesens entzückt. Ja, für die Popularität Aumale's war die Ernennung zum Präsidenten ein gewinnendes Los.

      Von der großen Schlossuhr hat es ein Uhr geschlagen.

      Der Gendarmerieunteroffizier, der hier das Amt des Gerichtsdieners versieht, schreit aus vollem Halse in den Saal hinein „Aufgestanden! Der Gerichtshof, „debout, le conseil!“

      Während durch die kleine Seitentür der greise General Pourcet, der öffentliche Ankläger mit seinem Stabe von Auditoren eintritt, öffnet sich im Hintergrund des Saales eine Tapetenportiere und langsam schreiten die neun Richter und Ersatzrichter herein.

      Aumale erscheint regelmäßig zuletzt.

      In Folge eines Sturzes vom Pferde, den er vor einigen Jahren erlitt, hinkt er nicht unbedeutend und seine Kollegen stehen bereits alle um den Tisch, wenn er den goldbordierten Hut abnimmt und die Lederhandschuhe ausziehend die sakramentalen Worte ausspricht: „Die Sitzung ist eröffnet!“ Seitdem die Photographen so ungeheuer viel in Vervielfältigung von Prätendentengeschlechtern zu machen belieben, gibt es keine größere Papierhandlung, die nicht das Antlitz des Präsidenten des ersten Militärgerichtshofes zur öffentlichen Schau stellt. Jeder, der Zeit oder Lust hat, vor einem dieser Glaskästen sich aufzuhalten, kennt die Physiognomie des Sohnes Louis Philippe's.

      Die nervigen, fast wie aus Stahl geschmiedeten Züge verraten, jeder vereinzelt und im Zusammenhang, eine prägnante Individualität. Der kurzgestutzte Kinn- und Schnurrbart drücken der Physiognomie einen militärischen Stempel auf, was auch der Absicht des Trägers entspricht, denn er ist sehr stolz von Jugend auf der Armee angehört zu haben und wie freute er sich so kindisch, als er einmal kurz nach seiner Rückkehr nach Frankreich an ich weiß nicht welchem Bahnhof für einen pensionierten Unteroffizier gehalten wurde.

Grafik 5

       Herzog Henri d‘Aumale

      Der Prinz liebt es noch heute im Umgang die zwanglose Brüskerie des alten afrikanischen „dur á cuire" nachzuahmen. Und dies ist seine Schwäche, in allem und je-dem als durch und durch für einen Militär zu gelten, während seine Intelligenz und Bildung gegen diese Landsknechtsmanieren demonstrieren.

      Die Sitzung ist eröffnet.

      Durch den Gang, der auf die cour d'honneur Aussicht hat, wurde Bazaine eingeführt, er hat sich leise vor dem Gerichtshof verbeugt und auf seinem Fauteuil niedergelassen.

      Die Tagesarbeit kann beginnen.

      Betrachten wir Aumale im Feuer der Aktion.

      Der kleine Greffier, (Anm.: Justizbeamter) dessen Gesicht aus einem alten Stück ärarischen Pergamentes geschnitten zu sein scheint und der allen Befehlen, Bemerkungen und Zurechtweisungen seines Chefs ein stereotypes, gemütliches Lächeln entgegensetzt. Herr Alla verliest ein Schriftstück.

      Die Vorlesung dauert lange. Das Publikum aber nimmt kein Interesse daran, die Herren Richter kümmern sich wenig darum. Der fetteste aller Kriegsobersten, General Guyot, dem man zwei Fauteuils statt eines einräumen darf, dreht den linken Zeigefinger über den rechten Daumen und den linken Daumen über den rechten Zeigefinger. Der lange, hagere General Lallement gähnt, während sein Nachbar, der kleine Reffayre gegen den ihn überwältigenden Schlaf kämpft und Martineau-Deogenais, der ohnedies Wolle genug in den Ohren hat, um gar nichts zu hören, mit dem Papiermesser auf seinem engen Pult einen Marsch trommelt. Die Vorlesung ist eine bloße Formalität für alle ... nur nicht für die zwei hellblauen Augen des Präsidenten. Wie geladene Mitrailleusen richten sich diese auf den unglücklichen, vielgeplagten Greffier. Wehe ihm, wenn er emé ohne Accent spricht, wenn er ein Komma oder ein Semikolon nicht genug andeutet! Wie ein Professor der Deklamation, welcher einem Schüler die bei einer Vorlesung oder Rezitation gemachten Fehler in der Aussprache korrigiert und das Richtige nachweist, ebenso korrigiert Aumale den „Schüler“ Alla. Er muss wirklich alles, was da vorkommt, im Kopfe haben und es wundert uns nicht, wenn man erzählt, dass der Präsident alle Nächte bis zwei Uhr die Sitzung des andern Tages vorbereite. Und gewiss muss er sich einer Riesenarbeit unterwerfen. Jede Frage, die er stellt, ist im Voraus bemessen, grammatikalisch konstruiert, wohlerwogen und verstanden. Alle Zwischenfälle, die sich da ereignen könnten, sind genau und bis ins geringste Detail vorausgesehen.

      Die Scene belebt sich, der trockene Vortrag des Pergamentmännchens ist überstanden. Ein Zeuge wird vorgerufen. Ein General im vollen Kostüm mit allen seinen Orden, ein Gentleman, ein hoher Beamter, ein ehemaliger Minister im korrekten schwarzen Anzug, das rote Bändchen im Knopfloch, oder es ist ein schlichter Forstwächter im grünen Gewand, ein Zoll- oder Eisenbahnbeamter in der Amtstracht, oder wieder ein Arbeiter, ein Polizeiagent oder ein Bauer.

      Das Verhör beginnt. Zuerst stellt Aumale die üblichen Fragen.

      „Wie heißen Sie? Wie alt sind Sie? Ihr Stand? (Nach Religion wird nicht gefragt.) Wo wohnen Sie? Kennen Sie den Marschall? Haben Sie mit ihm früher Beziehungen gehabt? Sind Sie mit ihm verwandt oder verschwägert? Und standen Sie in seinem Dienste oder er in dem Ihrigen?“

      All diese Fragen sind vom Gesetz vorgeschrieben.

      Es nimmt sich nun sonderbar aus, wenn man einen Wilddieb aus dem Ardennenwald fragt, ob der Marschall je in seinen Diensten gestanden, oder einen Zollwächter, ob der Marschall sein Verwandter ist.

      Viele der braven Leute vom Lande reißen den Mund wie eine Scheune weit auf, wenn man sie um diese Auskunft ersucht. Der Präsident unterdrückt dann rasch ein Lächeln und schreitet vor ohne die Antwort abzuwarten. Wenn er die Zeugen auffordert, ihre Aussage zu machen, bedient sich Aumale gern des Titels, der dem Verhörten zusteht Die Militärs nennt er mit Kürze bei ihrem Grad meistens „Colonel“, „General“, „Commandant“ ohne die Zutat des nach Philistertum duftenden „Monsieur“.

      Es ist merkwürdig, wie er mit jedem Zeugen gleich den richtigen Ton zu treffen weiß, der dem gesellschaftlichen Stande, dem Charakter und dem Fassungsver-mögen der Zeugen entspricht. Man möchte glauben, dass er diese Leute, von denen er die meisten zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, in der Westentasche stecken habe.

      Auf diese Weise versteht jeder, auch der beschränkteste, Zeuge gleich die Frage; denn die Fragen mit mehr Klarheit zu präsidieren ist gar nicht möglich, und zuweilen würde man bald den Faden aus lauter Sorge für die Details verlieren, wenn nicht Aumale selber Sorge trüge, ihn im geeigneten Moment wieder anzuknüpfen.

      Hat er z. B. einen Zeugen auszufragen: „Um wie viel Uhr haben Sie den Herrn Marschall verlassen?“, so wird Aumale folgendermaßen die Fragen stellen: „Erinnern Sie sich mit einer gewissen Genauigkeit, ob Sie von da an beim Herrn Marschall verblieben sind oder nicht? Und als Sie, wie es zu vermuten ist, von ihm Abschied nahmen, können Sie behaupten, ob sich in ihrem Gesichtskreise eine Pendeluhr, eine Wanduhr, eine Taschenuhr aus Gold, Silber oder Messing, eine Kirchen- oder Turmuhr, ein Wecker, ein Sandmesser oder irgend ein Gerät, auf dem die Stunden zu ersehen sind, befand? Und in diesem Falle durften Sie annehmen, dass die im Momente, wo Sie aus dem Zimmer traten, angedeutete Stunde die richtige war? Ich frage Sie nun, ob Sie vermuten, behaupten können, auf welcher Ziffer der Minuten- und auf welcher Ziffer der Stundenzeiger stand, als Sie Ihren Körper in Bewegung setzten? In anderen Worten bitte ich Sie mir zu sagen, um wie viel Uhr Sie das Zimmer verließen?“

      Grundsätzlich benimmt sich der Vorsitzende gegen alle Zeugen höflich und wohlwollend. Er ermuntert sie in ihren Aussagen, wenn er mit der größten Spannung zuhört und jeden Satz mit einem beifälligen Kopfnicken begleitet; die eingeschüchterten Zeugen und jene, welche mit Stimmmitteln nicht hinreichend versorgt sind, schützt er willig gegen das Gemurmel des in seiner Neugier betrogene Publikum. Der Ordnungsruf erfolgt hier