Marschall Bazaine Hochverrat. Rainer V. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer V. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742763167
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Proklamation Gambettas brachte, in welcher der ehemalige Chef der mexikanischen Expedition des offenen Verrats beschuldigt wurde, erregte die vor ganz Europa erfolgte Anklage peinliches Erstaunen. Die Behauptung aber, dass um republikanische oder gar demagogische Rachegelüste zu befriedigen, der Marschall des Kaiserreiches heute – drei Jahre nach den Ereignissen, die ihm vorgehalten werden – zum Richterstuhle geschleppt wurde, ist eine unrichtige. Nein, die Sühne, die ihn er-reicht, ist eine militärische. (…)

      Jetzt hörte man zum ersten Mal von der unbegreiflich mysteriösen dunklen Haltung des Marschalls während der Belagerung. Dieser absolute Gebieter über 300.000 Bewaffnete, den die Umstände von jeder Kontrolle befreit hatten, dieser Mann, der alle Vollmachten in Händen hatte, um Großes zu leisten, dieser Oberkommandant einer der schönsten Armeen, die Frankreich je besessen, lebte behaglich aber still als Roi Fainéant (Anm.: König Tagedieb) in der fürstlich eingerichteten Villa des von Saint Martin. Mit weit geringeren Hilfsmitteln hielt ein Tottleben zwei Jahre lang eine ebenso starke Armee, wie jene des Prinzen Friedrich Karl in Schach. (Anm.: Gottlob Curt Heinrich Graf von Tottleben, 1715 – 73 war ein russischer General unter Katharina II. „Der tollkühne Sachse im russischen Dienst“) Aber ein Tottleben dachte nur an eine aktive Verteidigung; Bazaine dachte an al-les, nur an das nicht. Mit seinem Hofstaate befasste er sich mit allerlei Intrigen und erwies sich als ein armseliger Stümper in diesem Fach. Und wie der Obergeneral, so intrigierten seine Leutnants untereinander. Die Armee war entmutigt, die Führer zerstritten und der Generalissimus spielte meistens Billard. Für jeden Abenteurer, wie den jetzt noch kaum enträtselten Régnier zugänglich, zeigte sich Bazaine niemals weder den Truppen, noch den niedergedrückten Bewohnern der Stadt. Am wenigsten durften die Sendboten der Regierung von Tours zu ihm gelangen. Am meisten verkehrte er noch mit seinem Gegner, dem Prinzen Karl und über diesen Verkehr gibt der Anklageakt nur beschränkte Andeutungen. Die Korrespondenzregister waren verbrannt und dass der Sieger sich in diesem Falle keine Indiskretionen zu Schulden lassen kommen würde, da-für war gesorgt. Aber die vorgefundenen Beweise genügten, um unwiderruflich darzutun, dass der Marschall gegen den Geist und den Buchstaben des Militärreglements, nach welchem jede Relation mit dem Feinde (außer in gewissen hier nicht zutreffenden Fällen) unzulässig ist, schwer gesündigt hatte.

      Dass es Bazaine, dem Freunde des Kaiserreiches und dem Verächter der Advokaten angenehmer war, mit einem Prinzen von königlichem Geblüt und einem der vorzüglichsten Generäle unserer Zeit zu verkehren, als mit den Republikanern von Tours, wäre begreiflich gewesen, wenn der Prinz in diesem Moment nicht der Feind und der verachtete Advokat die Regierung de facto gewesen wäre.

      Die Mitglieder der Kommission d’enquéte sind gewiss nicht republikanischer gesinnt als Bazaine selber und dennoch verurteilten sie streng diese Bevorzugung des persönlichen Geschmacks auf Kosten des Patriotismus Die Enthüllung all dieser Tatsachen, die Affäre Régnier, die Überlieferung der Fahnen etc., erfüllte die Armee mit Zorn und Scham; um ihr volle Satisfaktion zu geben, musste die Untersuchung eingeleitet werden.

      Befreundete Personen suchten damals den Marschall zu bewegen, sich ins Ausland zu flüchten; aber dem Einfluss seiner stolzen Frau folgend, blieb Bazaine. Er wollte die Schmach des Contumazialverfahrens (Anm.: Verurteilung in Abwesenheit) nicht den übrigen auf seinem Namen lastenden Verunglimpfungen hinzufügen.

      Ehe noch das für seinen Aufenthalt bestimmte Häuschen an der Avenue de Paris bereit stand, meldete er sich als Gefangener an. Sein Hausarrest unter strenger Bewachung dauerte volle achtzehn Monate vom Mai 1872 bis Oktober 1873. Allerdings war die Prozedur eine höchst langwierige; trotzdem hätte die Sache schon ihre Lösung gefunden, wenn nicht damals ein maßgebender Einfluss den Gang der Untersuchung verschleppt haben würde, in der Hoffnung, die ganze Angelegenheit würde im Sande verlaufen.

      Der Protektor Bazaine's war niemand anderer als Herr Thiers, der Präsident der Republik; er kannte den Generalissimus von Metz von früher her, er hatte ihm eigentlich den Posten anvertraut. Er fühlte eine geheime Zuneigung für ihn. Außerdem aber fürchtete der Präsident, dass der Prozess zumal in Deutschland eine üble Wirkung machen, ja vielleicht Komplikationen veranlassen könnte. „Das Territorium zu befreien und Bazaine zu befreien“, dies erklärte Thiers für seine Hauptaufgaben. Der zweite Teil aber fiel ihm schwerer als der erste, und als endlich der 24. Mai einen Soldaten an die Spitze der französischen Republik brachte und dazu noch einen Soldaten, welcher direkt unter der Handlungsweise Bazaine's zu leiden gehabt hatte, war keine Temporisation mehr zu hoffen. Dem Gesetz wurde, wie der technische Ausdruck lautet, freie Bahn gelassen und deshalb wartet sein Beginn Oktober die Menge der Zeugen, Neugierigen und Journalisten zweimal täglich im Rote der Versailler Avenuen. (…)

      Fürwahr, wer ein auch nur bescheiden entwickeltes poetisches Temperament besitzt, wird hier viel eher an eine Idylle denken, als an die Gerichtszeitung. Aber die Prosa findet ihre Rechte. Sie tritt den ganzen Weg entlang an uns heran in Gestalt der schwerfälligen Omnibusse der Westbahn, die anstatt zu fahren, wie die Böcke gezogen, satzweise springen und deren Conducteure den Vorübergehenden mit bedeutsamer Gebärde einladen, die Lücke im Kasten auszufüllen.

      Noch sprechender aber gibt sich diese Prosa kund, wenn man an das Ziel der Wanderung, das Gitter vor dem großen Trianon gelangt ist. Hier prangt ein Lustort, in des Wortes lustigster Bedeutung. Aber ein Cordon von in dunkle Mäntel gehüllten Sergeants de Bille verbietet jedem, der nicht Träger einer grünen, gelben, roten oder weißen Karte ist, den Eintritt in dieses Para-dies.

      Über diese Hindernisse setzen wir Mittels Vorzeigung des grünen Coupons, den wir der Gnade unseres Syndikus, des altehrwürdigen Herrn Crawford, verdanken, hinweg und betreten ebenbürtig mit all den als Zeugen berufenen Marschällen, Generalen, Expräfekten, Intendanten, ehemaligen Ministern etc. den „Ehrenhof“. die cour d‘honneur.

      Das große Trianon ist gleichsam das Vaudeville zum gewaltigen architektonischen Drama des Versailler Schlosses. Das Gebäude bildet drei zusammenhängende Tracte, ein Mittelstück und drei hervorspringende Flügel. Roter Marmor mit graziösen weißen Adern füllt die Räume zwischen den Kolonnaden aus, und während die beiden Seitenflügel die für die Zeugen, die Billetverteilung, die Stenographen etc. bestimmten Salons und das kleine Local umschließen, wo der Angeklagte die Pausen zubringt: fasst der gesamte von vierzehn monumentalen Fenstern beleuchtete Mitteltract (er diente unter Marie Antoinette als Tanz- unter Louis Philippe als Speisesaal) den Gerichtshof und das Publikum.

      Ehe wir uns der ernsten Ausgabe, den Debatten Schritt aus Schritt zu folgen, hingeben, werfen wir einige Blicke seitwärts auf das „kleine Trianon“. Wir gelangen dahin durch einen Seitenpfad. Dieser führt mitten in eine Millionärschweizerlandschaft. Aber eine Landschaft im Kriegszustand. Hinter den Gebüschen stehen Wachen, längs der unschuldigen Mauer, die dem Trianon entlang läuft und noch niemandem wehtat, stehen von hundert zu hundert Schritt Geniesoldaten mit aufgepflanztem Bajonett und geladenem Chassepot.

      Hinter der Umzäunung blickt das liebliche Schloss empor, wo Ludwig XV. manche süße Stunde verlebte und Marie Antoinette am liebsten schwärmte. Der Bau trägt gleichsam ein Schild, auf dem zu lesen ist, dass hier die galanten Freuden des Lebens recht königlich zu genießen wären. Das architektonische Kleinod aber ist heute zum Käfig geworden, zu einem Käfig mit vergoldeten, aber desto festeren Stäben. Wenige dürfen hinein, noch wenigere dürfen heraus. Bei allen Rücksichten für die hohe Stellung des Marschalls vergisst man doch nicht, dass er Staatsgefangener und von Belang ist. Der kommandierende Offizier weiß, dass es ihm an den Hals ginge, wenn Bazaine entkommen würde und er trifft darnach seine Vorkehrungen.

      Im Innern des Gartens von Trianon afficirt keine lästige Bewachung die Blicke des Marschalls, er kann hier ungestört inmitten der prächtigen Partien des Parkes lustwandeln, wo einst La Ouintinie einen andern französischen Marschall, den Großen Condé, in der Botanik unterwies.

      Aber es wäre Bazaine nicht zu raten, die herboristischen Studien außerhalb der Grenzmark fortzusetzen. Die Schildwachen haben Befehl, alles Verdächtige ohne Barmherzigkeit niederzuschießen und, um die Ausführung dieser Ordres zu sichern, lustwandeln Dragoner-patrouillen bei Tag und Nacht und krönen überall Bajonette das grüne Laub.

      Wie viel glücklicher fühlen sich da die einfachen Aktuare und Verwaltungsbeamte, die in dem ländlichen Gehöfte