Der Regen der Nacht konnte Marianne nicht davon abhalten, auch heute mindestens sechs Kilometer zu laufen. Ihr Outfit war nicht sexy. Das blaue T-Shirt saß ebenso eng am Körper wie ihre blaue Laufhose, die unterhalb der Knie endete. Ihr kleiner Busen machte einen Büstenhalter überflüssig. „Stay my ground“ von Within Temptation jagte jetzt durch die zwei Ohrstöpsel. Bryan Adams gefiel ihr besser. Oder Billy Idol, dieser Edel-Punk aus den 80er Jahren.
Den Mann hinter den Büschen sah sie nicht. Marianne atmete regelmäßig und spürte keine Seitenstiche. Ihr Schritt war stark und gleichmäßig, so gleichmäßig, wie ihr trainiertes Herz schlug.
Als Marianne etwas am Kopf streifte, spürte sie einen derben Schmerz und strauchelte. Ein Ast konnte es nicht gewesen sein. Für die Läufer und Spaziergänger hatte das Forstamt jeden auf die Laufwege ragenden und lästigen Ast abgesägt. Marianne hörte ein böses und schallendes Lachen. Pfiffe und Anfeuerungsrufe von Spaziergängern beantwortete sie beim Joggen, je nachdem, wer es war, mit einem Augenzwinkern oder einem Stinkefinger.
Was war das? Sie blieb einen Moment stehen uns fasste sich an die Stirn. Blut lief ihr in die Augen, und den Mann, der wie aus dem Nichts auftauchte, nahm sie nur verschwommen wahr. Sie sah den großen Stein, der sie mit spitzer Kante getroffen haben musste.
„Wehr’ dich nicht!“ Marianne hörte eine Stimme wie durch einen Schleier und mit einem Dialekt, den sie später als vielleicht russisch oder polnisch in Erinnerung hatte. So sollte sie es zu Protokoll geben. Angst floss durch ihren Körper. Ihr Herz schlug schneller, und Marianne sah nur schemenhaft, wie der Unbekannte auf sie zustürzte. Der Schlag seiner Faust war so wuchtig, dass sie wankte.
Ich muss mich wehren, dachte Marianne in dem Augenblick, als der Unbekannte sie packte. Sie stürzte zu Boden und spürte den Griff einer massigen Pranke um ihren Hals. Es war sein linker Arm, der sie auf den nassen und aufgeweichten Boden presste. Die andere Hand des Angreifers fasste zwischen ihre Beine und riss an der Sporthose und ihrem Slip. Marianne schlug wild um sich und riss den Unbekannten an seinem Hemd. Er roch nach Schweiß und verbrannter Asche. Er stank einfach bestialisch. Sein Atem an ihrem Hals roch nach Zähnen, die nicht geputzt waren. Diese Gerüche nach Fäule und Knoblauch sollten Marianne nie mehr verlassen.
Der Mann schrie und Marianne zerrte verzweifelt an seinem Hemd. Sie krallte sich in sein Kinn und wollte das Monster fortdrücken. Er lag mit seinem ganzen Gewicht auf ihr, als sie wieder seine Hand zwischen ihren Beinen spürte. Ein Finger drang brutal in sie ein.
Seine andere Hand würgte sie. Marianne sehnte sich nach frischer Luft. Sie empfand den Atem des Fremden wie eine Mischung aus Hausmüll und wässrigem Durchfall. Ekel stieg in ihr hoch.
Die zweite Hand des Fremden wühlte plötzlich nicht mehr in ihrer Vagina und ergriff sie an der Kehle. Das Stöhnen von Marianne wurde schwächer. Die zwei starken Pranken schlossen sich um ihren Hals. Marianne hatte ein Gefühl, als würden ihr die Augäpfel herausspringen.
Sie sah in zwei dunkle Augen, die ihr irre erschienen. Das schwammige Gesicht mit dem Doppelkinn und den schütteren Haaren sollten Marianne in Erinnerung für das Phantombild bleiben. Sein Kraftaufwand und die Wut ließen ihn rot anlaufen. Seine Halsmuskeln waren geschwollen und unnatürlich. Der stinkende Fremde drückte ihr die Kehle mit aller Kraft zu, er schrie in dieser fremden Sprache, die Marianne nicht verstand.
Als sie ihre Augen schloss und ihre erschöpften Schreie verstummten, ließen die beiden Hände von dem Fremden ihren Hals los. Sie spürte, wie er ihr die Trainingshose herunterriss und in sie eindrang. Der stechende Schmerz erinnerte sie an die Vergewaltigung, als sie noch siebzehn war.
Als er sich brutal und hart in ihr bewegte, nahm sie nur noch grunzende Laute wahr und verlor das Bewusstsein.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Marianne spürte die Sonne, die auf ihren Körper schien und tastete erst über den Boden und griff sich an die Hüften. Keine Trainingshose, kein Slip.
Ihr Kopf hämmerte. Marianne spürte Schmerzen und fühlte etwas Nasses, ihr eigenes Blut. Es war geronnen und wurde klebrig an ihren Fingern, die ihren Schamhügel betasteten.
Als sie die Augen öffnete, sah sie einen Eichelhäher, der schimpfend auf einem Ast saß. Marianne liebte die scheuen Eichelhäher. Liegend dachte sie nach. Nein, es war kein Traum und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie traute sich, ihren pochenden Schädel nur langsam nach rechts und links zu bewegen. Mit der rechten Hand griff sie nach ihrem Hals. Die Silberkette, die ihr Mann ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, fehlte. Das Medaillon war nicht wertvoll gewesen, aber sie liebte den kleinen Anhänger mit dem silbernen Eselchen.
Das ist vielleicht doch alles nur ein böser Traum, dachte sie erneut verwirrt und erschrak, als sie in das Gesicht eines alten Mannes mit großen Tränensäcken und einer dicken Hornbrille blickte. Sie schlug nach ihm und hörte dann eine Frauenstimme.
„Hermann, sei vorsichtig! Sie ist vergewaltigt worden. Wir müssen die Polizei rufen!“
Die alte Dame zog ihre Strickjacke aus und legte sie schweigend über Mariannes entblößten Unterleib. Marianne schaute in die beiden Gesichter, die besorgt und ebenso liebevoll schauten. Der alte Mann verbarg die Hände vor seinen Augen und zitterte.
„Liebling, mach’ du das. Es ist wie damals bei unserer Enkelin vor zehn Jahren.“
„Eins-eins-null“, hauchte Marianne leise und sah, wie die alte Frau ein Handy an das Ohr hielt. Marianne wollte wieder in Ohnmacht fallen und fragte sich vorher, ob der Vergewaltiger ahnen würde, dass sie noch lebt.
Der Schmerz an ihrem Ringfinger war pulsierend und sie flüsterte: „Er hat meinen Ehering genommen.“
Kapitel 2
Ich lebe mehr schlecht als recht. Als ich meine Ausbildung zum Industriekaufmann halbwegs ertrug und auch mit einer dreikommazwo überstand, ahnte ich bereits, dass der Job mir keinen Spaß machen wird. Vielleicht gibt es auch etwas wie „höhere Magie“, denn jeder Laden, der mich beschäftigte, ging auch pleite. Insolvenz nennt man das. Deutschland sollte froh sein, dass ich kein Beamter bin, denn wenn die Behörden Pleite gehen, dann entsteht eine neue Revolution.
Ich bin selbständig. Als Privatdetektiv lebe ich zwar jeden Tag von der Hand in den Mund, aber ich bin mein eigener Herr. Zu lange eigentlich, denn seit zwei Monaten lebte ich von den paar Euro, die ich nicht bar auf mein Konto einzahlte. Meine Bank ist zwar kulant, aber bei einem Privatdetektiv glaubte auch sie nicht an eine Besserung der Finanzlage. Das Schild DETEKTEI ALWIN SCHREER & ANNE-CATHERINE VARTAN lockte wenige Kunden. Die meisten hatten kein Geld, und die anderen langweilten uns mit Aufträgen, die spröde waren. Es machte selten Spaß, vor dem Haus eines angesehenen Bürgers mit der Spiegelreflex zu stehen und abzulichten, wer in das Haus ein und ausgeht, wenn der gute Mann nicht da ist und seine Reden vor irgendwelchen Gremien schwingt. Zeit hätte ich also genug, meine Wohnung aufzuräumen. Die stets aufgetürmten Kochtöpfe mit Resten von Spaghetti und Linsensuppe deprimierten mich. Zum Glück hatte die Küche eine Tür und einen passenden Schlüssel.
In meinem Büro sah es wenigstens effizient nach Arbeit aus. Mindestens zwanzig vergrößerte Fotos hingen an den Wäscheleinen, die Anne und ich kreuz und quer auf gehangen hatten. Es war ein Auftrag aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens. Anne, eine Ex-Journalistin mit Spürsinn, observierte eine weibliche industrielle Größe und Millionenerbin, wie sie ihre Liebhaber dutzendweise durchbumste, und der Auftrag würde uns mindestens 3.000 Euro einbringen, die unser Firmenkonto auch dringend benötigte. Der betrogene Ehemann hatte die verlangten 75 Prozent Anzahlung überwiesen.