Schuldig!. Jens R. Willmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens R. Willmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639886
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er es, sich darauf eingelassen zu haben. Melanie war auch seine Tochter. Und er hatte keine Chance, sie aufwachsen zu sehen wie Gina Marie, aber trotzdem war Melanie seine Erstgeborene und er liebte sie, wenn er es ihr auch nie zeigen konnte. Wütend schnippte er die Kippe weg und stieg in seinen Wagen.

      Nachdem er wieder im Wuppertaler Polizeikommissariat angekommen war, wollte er gerade den Staatsanwalt anrufen, als sein Handy klingelte. Er sah auf das Display und erkannte die Nummer seines Kollegen Nitze von der Spurensicherung.

      »Es gibt einen Leichenfund«, sagte Nitze, ohne zuerst zu grüßen.

      »Wo?«

      »Bahnhof am Loh.«

      »Was für ein Bahnhof?«

      Hartmann konnte sich nicht erinnern, jemals von diesem Bahnhof gehört zu haben.

      »Na, der Stillgelegte in der Rudolfstraße, in der Nähe des ehemaligen TUFFY-Standortes, oder Clausenstraße, wenn dir das was sagt«, sagte Nitze und nun klingelte es bei Hartmann. »Du meinst das alte Gebäude, gegenüber der Schule.«

      »Richtig, genau dort«, bestätigte Nitze, während Hartmann sich vage daran erinnerte, dort vor Jahren mehrmals gewesen zu sein. »Hat da nicht so eine Karnevalsgesellschaft ihr Clubheim?«

      »Ja, die Wuppertaler Prinzengarde.«

      »Was ist passiert?«

      »Komm lieber her, das wirst du nicht glauben.« Sie beendeten das Gespräch und Kommissar Hartmann schnappte sich seine Jacke und eilte zu seinem Wagen zurück.

      Über die B 7 ging es in Richtung Wuppertal-Barmen, wo er schließlich 20 Minuten später den ominösen Bahnhof erreichte. Ein wenig schwermütig stieg er aus, nicht ohne sich dabei schon wieder eine Zigarette anzuzünden.

      Langsam näherte er sich einer Polizeistreife, die Schaulustige davon abhielt, noch näher an den Tatort zu gelangen. Mürrisch und ohne ein Wort zu sagen ging er an den Beamten vorbei, über einen asphaltierten schmalen Weg an einer mittelhohen Hecke entlang, bis er am Ende von Nitze erwartet wurde. »Wie ich sehe, haben wir wieder mal viele Zuschauer!«, stellte Hartmann lakonisch fest und fuhr sich mit der Hand durch sein schon etwas schütteres Haar. Nitze nickte kurz. »Du bist halt bekannt, Hartmann.«

      Im Gegensatz zu Hartmann schien Nitze sich überhaupt nicht zu verändern. Er hatte noch immer sein volles schwarzes Haar, welches kurz geschnitten war, kaum Falten im Gesicht, und schien irgendwie nicht zu altern. Sein Kollege versuchte, wie schon so oft in solchen Situationen, witzig zu sein. Wir begegneten dem Tod beinahe jeden Tag, wir sollten ihn als normal ansehen, und dazu gehöre auch ein wenig Humor – so etwas Ähnliches hatte er mal zu Hartmann gesagt, der sich über diese Einstellung noch heute wundert. Obwohl er ihm recht geben musste. Nitze war in seiner Arbeit immer extrem penibel. Und Hartmann konnte ihm deshalb voll und ganz vertrauen. Nitze sucht so lange, bis er was findet, gibt nie auf, und so manches Mal verbrachte er auch die Nacht in seinem kleinen, alten und schäbigen Labor im Keller des Kommissariats.

      »Haha, noch so ein Ding, Doppelschicht«, scherzte Hartmann, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. »Nein, aber nun mal im Ernst, was wollen die hier? Was haben wir?« Der Kommissar warf wie so oft seine halb gerauchte Kippe weg und ließ seine Hände in den Hosentaschen verschwinden.

      »Schau es dir selbst an! Komm mit!« Nitze drehte die Augen kurz zur Seite und sie gingen.

      »Rainer, die Kippe dort ist von Hartmann.« Der Kommissar biss sich auf die Lippe. Wie oft hatte Nitze ihn schon gemahnt, nicht immer seine Kippen am Tatort zu hinterlassen?

      »Entschuldige.«

       »Kennt man ja nicht anders, Marc.«

      Gemeinsam näherten sie sich dem Tatort. Während Nitze schnellen Schrittes darauf zusteuerte, hielt sich Hartmann auffällig zurück, um das Geschehen erst einmal aus einiger Entfernung zu betrachten. Als Erstes fielen ihm die weit aufgerissenen Augen auf, die Schreckliches vermuten ließen. Dazu noch die seltsam hochgestreckten Arme und die wenigen Zentimeter bis zum Boden, die dem Opfer fehlten.

      Durch den leicht nach vorn gebeugten Kopf des Opfers konnte man etwas auf der Stirn des Mannes erkennen.

      Nachdem ersten Eindruck folgte Hartmanns Blick dann dem Verlauf des Seils, an dem der tote Körper hing. Auch das helle Isolierband, das an einer Stelle des Stranges umgewickelt war, entging ihm nicht. Auf dem Boden standen verschiedene Nummerntafeln, wenn auch nicht ganz so viele, die einzelne Spuren bezifferten und so zur Sicherung dienten für die spätere Dokumentation.

      Beim näheren Betrachten bemerkte er die schlechte Kleidung, die vielleicht auf einen Obdachlosen hinwies. Das Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Ähnlich wie er sie bei seiner Tochter heute schon entdeckte, hier nur intensiver. Hartmann schätzte ihn auf Mitte fünfzig, wusste aber, dass er sich auch durch das Bild, das die Leiche abgab, täuschen konnte. Die Schuhe waren mehr als ausgelatscht, kaum noch Sohle und an den Seiten bereits eingerissen. Die Haare ungewaschen, die Hände voller Kratzer und schmutzige Fingernägel. Hose und Mantel machten den Eindruck, schon länger keine Waschmaschine mehr von innen gesehen zu haben. Es waren deutliche Spuren von Urin und Kot zu sehen. Die Entleerung, wahrscheinlich ausgelöst durch die Erschlaffung des Schließmuskels, nach Eintritt des Todes.

      Plötzlich dachte Hartmann, dass er so etwas schon irgendwo einmal gesehen hatte. Nur wo, wollte ihm momentan nicht einfallen, so sehr er auch darüber nachgrübelte. Schließlich wischte er den Gedanken weg und bat Nitze, ihm nun seine bisherigen Ergebnisse mitzuteilen.

      »Okay, angerufen hat uns die Bewohnerin vor etwa einer Stunde. Wo bist du eigentlich vorher so schnell hin?«

      »Ich war in Velbert, privat.«

      »Hättest du doch was gesagt.«

      »Nein, da war ich schon wieder im Präsidium, als du anriefst«, winkte Hartmann ab, »Ist sie noch da?«

      »Wer?«

      Ungeduldig verdrehte Hartmann die Augen. »Na, die Frau, die ihn fand.«

      »Ach so, ja, natürlich. Sie wohnt ja direkt dort im Bahnhofsgebäude.«

      Etwas erstaunt sah der Kommissar zu dem alten Gemäuer. »In der Bruchbude wohnt jemand?«

      »Ja, schon viele Jahre, wie sie uns mitteilte.«

      Kopfschüttelnd suchte Hartmann in den Jackentaschen nach seinen Zigaretten, doch die musste er wohl im Wagen gelassen haben. »Verflucht«, dachte er und überlegte, sie zu holen, ließ es aber vorerst sein. »Ich habe so etwas schon mal gesehen.« Er deutete auf das Opfer und konnte sich von dem Gedanken einfach nicht lösen.

      »Das könnte sein«, nickte Nitze von der Spurensicherung. »Eigentlich handelt es sich um eine alte Foltermethode, Pfahlbinden oder Baumhängen. Doch der oder die Täter gingen noch einen Schritt weiter.« Der Ermittler schien in seinem Element und für den Kommissar war das nichts Ungewöhnliches, denn er kannte ja bereits Nitzes Faszination für historische Tötungsdelikte und Foltermethoden. »Sieh es dir an.« Er forderte Hartmann regelrecht dazu auf, nun endlich näher heranzutreten, doch der winkte ab: »Ich sehe von hier gut genug.«

      Aber der hartnäckige Spurenermittler ließ sich in seinem Drive nicht abhalten, er wollte seine bisherigen Erkenntnisse näher erläutern. »Siehst du? Er hat dem Opfer die Arme nach hinten zusammengebunden, was bis hierhin noch die normale Vorgehensweise bei dieser Folterart ist.« Nitze drehte den Toten, der ja noch am Baum hing, um dem Kommissar seine Schilderung auch bildlich zu verdeutlichen. »Aber dann nahm der Täter ein zweites Seil und zog das eine Ende durch die Schlaufe der gefesselten Handgelenke, um dieses am Hals zu einer Schlinge zu binden. Das andere Ende dann nur noch über den Ast, schließlich hoch mit dem armen Kerl. Er musste wohl nicht lange warten bis es knack gemacht hat.«

      »Knack?« Hartmann schien verwundert über diese Äußerung.

      »Ja. Durch das Hochziehen stellten sich die auf dem Rücken zusammengebundenen Arme entsprechend rechtwinklig zum Rücken. Wodurch der ganze Körper mit angehoben wurde. Aber nur solange, bis die Muskulatur im Schulterbereich nachließ. Durch dieses Nachlassen wurden