Schuldig!. Jens R. Willmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens R. Willmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847639886
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nicht daran glauben, dass er mit seinen Problemen nicht auch selbst fertig würde.

      Er wollte auch nicht nur an sich denken, sondern für seine Frau da sein, die zu dem Zeitpunkt gerade schwanger war. Die ganze Schwangerschaft lief so problematisch ab, dass bis zum Schluss nicht feststand, ob alles gut gehen würde. Die ständigen Schmerzen seiner Frau und auch die unregelmäßigen Herztöne seiner inzwischen geborenen Tochter Nadine bereiteten ihm und den Ärzten ziemliche Sorgen. Zwischenzeitlich war sogar von einem Abbruch die Rede. Aber es ging alles gut.

      Plötzlich musste Hartmann lächeln, als er sich daran erinnerte, wie ihn seine Frau vor der Geburt anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie wieder in die Klinik müsse. Ohne weiter nachzufragen, hatte er einfach aufgelegt und war zum Bethesta Krankenhaus geeilt. Dort in der Neugeborenenabteilung angekommen, fragte er nach seiner Frau. Doch die Schwester konnte ihm nicht weiterhelfen. »Ihre Frau ist nicht hier«, hatte sie ihm geantwortet. Doch er ließ nicht locker. »Wie, sie ist nicht hier? Wir haben eben telefoniert, und sie sagte mir, dass sie wieder in die Klinik müsse.« Doch die Krankenschwester schüttelte nur den Kopf. »Es tut mir leid, ich kann ihnen nicht sagen, wo Ihre Frau ist, aber hier jedenfalls nicht.« Hartmann wurde daraufhin sauer und ärgerte sich über sich selber, weil er wohl wie so oft zu früh aufgelegt hatte. Eilig suchte er nach seinem Handy und rief seine Frau an. Nach dem zweiten Läuten meldete sie sich. »Wo bist du?«, fragte er immer noch völlig aufgelöst. Chantal lachte, wenn es sich auch etwas gequält anhörte. Es dauerte, bis sie antworten konnte. Dann erklärte sie ihm, dass sie erst am nächsten Tag in die Klinik müsste. Hartmann schlug sich mit der Hand an die Stirn und fluchte, nachdem er wieder sehr schnell aufgelegt hatte, über seine Blödheit. Beschämt erklärte er die Situation der Krankenschwester, die sich freundlich lächelnd von ihm abwandte.

      Hartmann sah auf die Uhr, die an der frisch gestrichenen Wand in seinem Büro hing, halb neun. Heute schien die Zeit besonders langsam zu vergehen. Er nahm einen Schluck von dem kalt gewordenen Kaffee. Das Fenster stand offen. Der Sommer neigte sich nun endgültig dem Ende zu. Nachts ging das Thermometer schon mal unter die zehn Grad, was er besonders zu spüren bekam, wenn er zum Rauchen auf die Terrasse ging, weil er wieder nicht schlafen konnte. Früher hatte er ja noch sein Raucherzimmer, aber das musste er für die kleine Nadine räumen. Manchmal schritt er auch hinüber zu der großen alten Eiche, die sich im hinteren Teil seines Gartens befand, und setzte sich auf die schon in die Jahre gekommene alte, morsche Holzbank, nur bekleidet mit einem Bademantel. Jedes Jahr nahm er sich vor, dieser alten Bank einen neuen Anstrich zu verpassen, doch auch dieses Jahr würde es wohl nichts mehr werden. Und wenn er dann dort so saß und auf die Morgendämmerung wartete, grübelte er über sein Leben, seine Familie, aber auch ganz besonders über seinen Beruf nach. Natürlich hatte er viel erreicht. Als kleiner Verkehrspolizist hatte er mal angefangen, und nun war er Hauptkommissar. Viele Fälle konnte er mit seiner ganz eigenen, außergewöhnlichen Art lösen. Doch es wurde ihm mehr bewusst, dass gerade die letzten drei Fälle seine Psyche angegriffen hatten und der letzte machte ihm immer noch schwer zu schaffen.

      Im Kommissariat Wuppertal Elberfeld, galt er als kalt und gefühlslos, eben als harter Hund. Doch diese charakteristischen Eigenschaften fingen an zu bröckeln. Zwar ließ er bisher keinen Fall so nah an sich heran, aber die Brutalität, mit der die vermeintliche »Stiefmutter« ihre adoptierten Kinder tötete, war für ihn unfassbar. Was ihn damals auch besonders belastet hatte, war der Gedanke, drei Kinder tot, und er würde bald wieder Vater werden. Doch diesen Gedanken sprach er nie offen aus. Eigentlich sollte man solche Dinge in einem Lebensalter von 42 Jahren viel besser verarbeiten können, aber diese Bilder, wie sie die Kinder aufgefunden hatten und wie sich dann am Ende die Mutter erschoss, sie wollten einfach nicht aus seinem Kopf.

      Das wirkte sich auch auf seine körperliche Verfassung aus. Seine Frau nannte ihn oftmals liebevoll »Dicker«. Er war immer sehr schlank und sportlich gewesen, mit zunehmendem Alter hatte sich aber so langsam ein kleines Bäuchlein unter dem Hemd abgezeichnet. Doch wenn Chantal es nun sagte, sah er ihren sorgenvollen Blick. Ihm wurde dann wieder bewusst, dass er die letzten zwei Monate wieder ziemlich abgenommen hatte. Aber er verspürte einfach keinen Hunger mehr, Essen war wie eine Strafe geworden, die ihm sein Körper aufbrummte.

      Um das alles verarbeiten zu können und endlich zur Ruhe zu kommen, ging er immer mal wieder auf den Friedhof, um die Gräber der Kinder zu besuchen. Meistens hielt er sich etwas abseits auf und so sah er wiederholt eine junge Frau im roten Mantel, die wie aus dem Nichts auftauchte und kurz am Grab der Kinder verweilte. Sie legte jedes Mal eine Blume für jedes der Kinder nieder und verschwand dann genauso schnell wieder, wie sie gekommen war. Ob sie ihn schon einmal wahrgenommen hatte, wusste Hartmann nicht. Er kam auch gar nicht dazu, sie einmal anzusprechen. Sie schien jung, vielleicht Anfang dreißig, lange, dunkle Haare, schlank, beinahe mager, was trotz Mantel zu erkennen war, und sie hatte ein zierliches, blasses Gesicht. Hartmann vermutete, dass sie vielleicht Osteuropäerin war, und immer, wenn er sie sah, war sie mit diesem roten Mantel bekleidet, dazu Jeans, die in hohen Stiefeln steckten. Auf der Beerdigung hatte er sie nicht gesehen, oder gar nicht sehen können, bei weit über 300 Trauernden an diesem Tag. Da konnte man sehen, wie Nahe der Fall den Wuppertaler Bürgern ging.

      Hartmann schüttelte den Kopf, nahm sich eine Zigarette und schaute wieder auf die vor ihm liegende Akte. Auch dieser Fall lag noch nicht so lange zurück, und nun würde in wenigen Tagen endlich die Verhandlung beginnen. Gegen seinen Ex-Kollegen Jürgen Schneider, der in der Korruptionsaffäre wohl die Seiten gewechselt hatte. Der Fall war klar, Schneider würde eine hohe Strafe bekommen. Aber Hartmann las noch einmal nach, um Details und Fakten wieder aufzufrischen. Er galt schließlich als Hauptzeuge, was auch ein wenig Unbehagen in ihm hervorrief, da er eine lange Zeit mit Schneider zusammengearbeitet hatte. Gleichzeitig hoffte der Hauptkommissar, diese Geschichte bald abschließen und damit die Unterlagen ein für alle Mal ins Archiv bringen zu können.

      Gerade als er sich entschloss einen frischen Kaffee zu holen, wurde er durch das Klingeln des Telefons gestoppt.

      Als er ranging, meldete sich eine Beamtin vom Polizeirevier Velbert. Sie stellte sich als Kommissarin Wisert vor. »Wir haben hier eine Melanie Hartmann in Gewahrsam, und sie behauptet, Sie zu kennen. Sie seien ihr Vater.« Hartmann Gesichtszüge verfinsterten sich. War sie also wieder da. Erst glaubte er den Gerüchten nicht, die da im Umlauf waren, doch nun kam die Bestätigung. »Was hat sie ausgefressen?«, fragte er und die Polizistin erklärte ihm, dass sie sie zusammen mit einem Dealer festgenommen hätten. »Wir beobachteten diesen schon länger und schlugen zu, als er Ihrer Tochter wohl gerade etwas verkaufen wollte.« Hartmann hörte sich alles an und versprach, im Laufe des Vormittags zu kommen. Nachdem er aufgelegt hatte, überlegte er kurz, ob er seine Ex-Frau noch anrufen sollte, aber er ließ es erst einmal sein. Melanie Hartmann war seine Tochter aus seiner ersten, wenn auch nur kurzen Ehe. Seine damalige Frau Anja kam nicht mit Hartmanns Job klar, und irgendwann erzählte sie – wie klassisch –, dass sie da jemanden kennengelernt habe. Da war Melanie gerade mal zwei Jahre alt. Der Neue arbeitete bei einer großen Bank in Frankfurt, war eigentlich das, was man gemeinhin eine gute Partie nennt, dennoch gab es immer wieder Schwierigkeiten mit Melanie. Irgendwann rief Anja dann wieder an, aber nur um ihm mitzuteilen, dass sie es mit Melanie nicht mehr schaffen würde und sie beschlossen hätte, sie in ein Internat zu geben. Hartmann war zwar nicht gerade begeistert von dieser Idee, stimmte aber am Ende doch zu. Er hingegen sah sie erst im Alter von achtzehn Jahren wieder. Irgendwie hatte sie seine Adresse erfahren und stand eines Tages bei ihm vor der Tür. Sie war hübsch wie ihre Mutter, dunkles langes Haar, hatte seine Augen und eine kleine Stupsnase. Er fand sie zwar etwas mager, aber dennoch passte ihre Figur sehr schön zu ihrem Gesicht. Ihre Stimme, daran erinnerte er sich noch, klang unsicher, aber sie kannten sich ja eigentlich auch kaum bis gar nicht. An diesem Tag, als er sie das erste Mal wiedersah, kam es zu einem großen Streit. Sie warf ihm vor, sich nicht um sie gekümmert zu haben. Wollte sich auch nicht beruhigen, als Hartmann ihr klarzumachen versuchte, dass dies so mit ihrer Mutter abgesprochen war. Wütend schnappte sie sich einen großen Gegenstand und warf diesen in seine Richtung. Woraufhin er sie packte und aus dem Haus warf. Danach kehrte für einige Wochen Ruhe ein, bis er sie das erste Mal aus der Untersuchungshaft in Essen holte, da war sie gerade mal neunzehn Jahre alt. Sie wurde damals bei einem Einbruch erwischt, und wäre eigentlich auch für einige Zeit in Jugendarrest gekommen, wenn er nicht mit dem Staatsanwalt gesprochen hätte. Doch irgendwie hatte