Unverfroren. Madlen Jacobshagen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Madlen Jacobshagen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738085419
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und ließ sich gern mit ihr sehen. Was war es eigentlich, das sie so verändert hatte, grübelte er. Das Geld? Als die Kinder klein waren, war es verständlich, dass sie nicht mehr so viel Zeit hatte für ihn. Sie gab ihren Beruf auf und kümmerte sich viel um die Kinder, während er jahrelang mit seiner Karriere im Konzern beschäftigt war. War das nicht normal? Das Auseinanderleben begann erst richtig, als die Kinder größer wurden. Vielleicht lag es an ihren Freundinnen, welche Yvonne, die sich damals zuhause langweilte, in die Besessenheit von Mode, Schmuck und Luxusurlaube getrieben hatten. Keine Ahnung, wem sie damit imponieren wollte! Ihm wurde der neue Lebensstil jedenfalls immer mehr zuwider. Und wie viel Gewese sie um Helge gemacht hatte! Sie hatte ihn ganz verweichlicht und verwöhnt. Aber am schlimmsten war dann der Skandal mit Philipp! Sich an einen jungen Verehrer der Tochter ranmachen- das war einfach zu viel. Wenn er bei diesen Erinnerungen angekommen war, fragte er sich, ob er den Graben, der sich zwischen ihnen entwickelt hatte, wohl je werde überwinden können. Sein bester Freund hatte ihn einmal darauf angesprochen, warum er sich nicht von Yvonne trennen würde. Er hatte schlicht seinen Vater zitiert, Trennung sei ein Zeichen menschlichen Versagens. Deswegen käme es nicht in Frage. Und Yvonne würde sich wegen des Geldes erst recht nicht von ihm trennen. So einfach sei das.

      Wenn er in seinen Gedanken bei diesem Punkt angelangt war, schob er sein Nachsinnen über die Ehe meist beiseite und wandte sich wieder seinem Geschäftsalltag und dem Geheimnis mit seiner Tochter zu. Zwischen seiner noch immer sehr angespannten Tätigkeit im Konzern und den vielen Flugreisen genoss er meist die Ruhe im eigenen Haus. Am liebsten verbrachte er Stunden in seinem Arbeitszimmer am Computer und versuchte im Internet alles herauszufinden, was es über genetische Interventionen gab. Über Kryonik fand er viel seltener etwas. Als er aber mitbekam, dass ein aufgetautes Organ wieder funktionsfähig war oder gar ein Kaninchen aufgeweckt worden war, wuchs seine Aufregung fast ins Grenzenlose. Wann endlich wird es soweit sein? fragte er sich immer wieder. Und dann kam der große Tag.

      Er wird diesen Augenblick nie vergessen. Die Sonne scheint gerade in den verschneiten Garten, sodass es ihm draußen überwältigend hell erscheint. Auf seinem Monitor taucht die Nachricht auf, dass es gelungen ist, einen eingefrorenen Menschen wieder zum Leben zu bringen. Glaub ich nicht, ist seine erste Reaktion. Ist heute der 1. April? Eine Nachrichtenente? Er fährt den Computer herunter und wählt erneut das Programm. Wieder steht da die skandalöse Nachricht. Weiter unten finden sich schon zahlreiche Kommentare von Journalisten. Morgen wird es die ganze Welt wissen, denkt er. Dann liest er weiter. Der erste aufgetaute Mensch ist ein 64jähriger Professor, der sich als einer der ersten einfrieren ließ. Aber er hat nur ein paar Stunden gelebt. Ernüchternd. Aber es ist immerhin ein Anfang. Georg weiß nicht wohin mit seiner freudigen Aufregung. Wenn er doch mit irgendwem sein Geheimnis teilen könnte, wünscht er sich zum hundertsten Mal. Er mag nicht mehr länger zuhause sein und macht sich auf an die Elbe. Dem wohlbekannten Weg folgt er heute viel länger als sonst. Bei der Kälte sind nur die Hundebesitzer unterwegs. Ich sollte mir auch einen Hund anschaffen, dann freut sich jedenfalls jemand, wenn ich nach Hause komme, sagt er sich mit etwas Bitterkeit. Auf seinem Rückweg fallen große Schneeflocken so dicht, dass er kaum den Weg vor sich noch erkennt. Gelegentlich wischt er sich mit dem Arm den Schnee vom Gesicht. „Wir werden es schaffen!“ redet er jetzt halblaut zu sich. Jetzt sollten sie nur schnell Fortschritte mit der genetischen Behandlung des Lynchsyndroms machen. Auch in der genetischen Forschung hatte sich in der letzten Zeit erstaunlich viel getan. Die versuchten Eingriffe konnten immer gezielter und damit effektiver sein. Bald werde er die Leitung des Konzerns aufgeben und nur noch dem neuen Geschäftsführer beratend zur Seite stehen. Wie herrlich viel Zeit werde er haben! Viel intensiver könne er sich bald mit den beiden Wissenschaften befassen. Als er die Einfahrt zu seinem Haus entlang schreitet, lässt der Schnee nach. Er trampelt mit den Füßen und schüttelt sich wie ein Hund, ehe er den erleuchteten Flur betritt. Gute Aussichten, sagt er seinem rotwangige Gesicht im Garderobenspiegel.

      ∞

      Georg hatte nur noch zwei Jahre warten müssen, bis das Ungeheuerliche möglich schien. Wieder traf er wohlüberlegt einige Vorkehrungen. Um hohe Kosten aufbringen zu können, verkaufte er sein Haus auf Amrum, die anderen Immobilien behielt er aber aus gutem Grund. Als Yvonne ihn auf den Verkauf ansprach, meinte er nur, sie sei ja schon zwei Sommer nicht mehr auf der Insel gewesen, deshalb sei es an der Zeit zu verkaufen. Da das Haus in ausgezeichneter Verfassung sei, würde er sicher bald einen Käufer finden. Yvonne hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. Wenn sie gewusst hätte! Als nächstes erkundigte er sich nach Darmkrebsspezialisten und nach einer guten Physiotherapeutin, die auch zu einem Ortswechsel bereit wäre. Nach ein paar Monaten war es so weit.

      Georg ist tatsächlich für ein Stündchen eingenickt. Schon zeigen die Lämpchen über ihm den Landeanflug an. Die Lautsprecheranlage über ihm schnarrt so sehr, dass er die englische Ansage der Stewardess gar nicht versteht. Wozu auch? Als Vielflieger kennt er sich aus. Diesmal steigt er in einem Mittelklassehotel in der Nähe des Instituts ab. Als er auf seinen Koffer beim Gepäckband wartet, kann er das Zittern seiner Hand nicht unterdrücken. Morgen wird er erst einmal ein Gespräch mit dem Leiter des Instituts haben, der gleichzeitig Internist ist. Acht Leute sollen in dem Institut schon aufgetaut worden sein, aber nur einer habe einen Monat überlebt. Wird sie so bald noch einmal sterben müssen? fragt er sich immer wieder?

      Am nächsten Morgen muss er erst einmal etliche Formulare unterschreiben, in denen nicht nur die Bezahlung festgelegt wird sondern er auch aufgefordert wird, für den Eingriff in Vertretung der Klientin die Verantwortung zu übernehmen. „Eingriff“ nennen sie das! Den Bürokraten fällt auch nichts besseres ein, mokiert er sich.

      Der Direktor, ein Mann in den Vierzigern, begrüßt ihn freundlich und erklärt ihm das bevorstehende Verfahren. Um die Körperzellen zu schonen müsse man über mehrere Tage das Auftauen hinziehen. Und dann fasse man sich als Beobachter bitte in Geduld! Die menschlichen Funktionen würden erst nach und nach wieder zurückkommen.

      „Kann ich mir schon vorstellen,“ will Georg die Ausführungen abkürzen, etwas, das er später bereuen sollte.

      „Wir sind selber sehr gespannt in diesem Fall. Sie ist mit Abstand die Jüngste unserer Klienten. Das kann vieles vereinfachen.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich der Direktor. Anscheinend hat er es eilig.

      Ehe er sich’s versieht, steht Georg wieder draußen vor der Tür. Immerhin sieht er die Tür des Sekretariats, wo er fragt, wann man mit dem Auftauen beginnen wolle. „Morgen früh“, ist die kurze Antwort.

      „Was soll ich bloß machen in dieser mittelgroßen Stadt, in der ich niemanden kenne und in der mich nichts reizt. Drei bis vier Tage werden sie brauchen, bis sie Normaltemperatur erreicht haben. Drei bis vier Tage bangen Wartens. Wie schon so oft, würde er so gern mit jemanden darüber reden. Er geht in Restaurants, den Zoo und ins Kino, um die grausame Zeit totzuschlagen. Am vierten Tag wird er im Institut erwartet. „Denken Sie dran, erwarten Sie nicht zu viel,“ ruft ihm der Direktor noch zu, bevor er den Auftauraum betritt. Bleich und regungslos liegt Saskia vor ihm auf einer breiten Liege. Georg ist merkwürdig berührt, als er sie sieht. Ihm wird jetzt erst bewusst, dass er sie noch nie als junge Frau nackt gesehen hat. In der Mitte des Brustkorbes entdeckt er eine Wunde, die mit drei Klammern zusammengehalten wird und aus der ununterbrochen ein Sekret herausfließt. Georg wendet sich angeekelt ab, aber kurz danach heftet er wieder seinen Blick auf ihren Körper. Wie schön ihr Gesicht noch immer ist! Zwei Assistenten in grünen Kitteln bringen Auftauwasser weg und befestigen Elektroden an Kopf und Brust, die kleine elektrische Impulse aussenden sollen. Der Kleinere von ihnen löst die Klammern, versorgt und verbindet die große Wunde. Dann stellen sie sich beide an die Liege und warten ab.

      „Klappt schon!“ sagt plötzlich der große Breitschultrige. „Das Herz fängt an zu klopfen.“ Georg ist nass geschwitzt vor Aufregung und starrt auf seine Tochter. Plötzlich bricht Saskia in wilde Zuckungen aus und stößt einen urtümlichen Schrei aus. Georg schrickt zusammen. „Oh Gott,“ denkt er. „Hoffentlich ist sie durch die Prozedur nicht in ein Monster verwandelt worden. Ist ja grauenhaft.“ Die Zuckungen und das Schreien setzen sich indessen fort. Der Breitschultrige nähert sich schließlich Georg und fragt:“Hat Sie der Chef nicht darauf vorbereitet?“ Dann legt er eine Hand auf eine Schulter von Georg und