„Es ist auch ernst“, sagt sie, während sie Isabells Zimmer betritt. Als sie Isabell alles erzählt hat, liegen sich die beiden Freundinnen lange weinend in den Armen. Schließlich beginnt Isabell:
„Du kannst doch trotzdem mitkommen, solange es dir gut geht. Meinst du, in Kalifornien gibt es keine guten Ärzte?“
„Schon. Ich will aber nicht so weit weg. Ich brauche Papa an meiner Seite und ein bisschen mein Zuhause.“
„Bei deiner Mutter?“
„Vielleicht versteckt sie ja nur ihre Gefühle.“
„Wenn sie als Erstes nach der bösen Nachricht mit deinem Vater einen Streit anfängt, von wem du es geerbt haben könntest?“
„Aber sie ist meine Mutter. Und Helge und die Freunde sind da und das Haus und die nahe Elbe. Kannst du das verstehen?“
„Und ich soll allein mach Kalifornien gehen? Mit dir zusammen hätte ich es geschafft. Aber allein habe ich Schiss.“ Und nach einer Pause: „Ich bleibe hier. Wer soll dich sonst besuchen am Krankenbett und dir gute Bücher bringen?“
„Das will ich nicht annehmen. Wenn du drüben bist, können wir ja ganz viel telefonieren und du kannst mir alle deine Liebesgeschichten erzählen.“
„Du Unverbesserliche!“
∞
Wochen und Monate vergehen. Der Winter hat schon angekündigt mit ersten Frösten, einmal sogar schon mit Schnee. Isabell ist inzwischen doch gefahren. Saskia ist auf dem Weg zu einer ganz normalen gynäkologischen Untersuchung. Nach längerem Warten wird sie schließlich hereingerufen und untersucht. „Was ist denn das?“ sagt die Ärztin, als sie in dem Stuhl liegt, den sie gar nicht mag. „Der linke Eierstock gefällt mir gar nicht. Begeben Sie sich so bald wie möglich nach Eppendorf zur Kontrolluntersuchung. Hoffen wir auf eine harmlose Zyste!“
Damit hat Saskia nicht gerechnet. Bisher war nur ihr Darm erkrankt. Als ihr Vater sie am nächsten Morgen ins Klinikum Eppendorf begleitet, sieht er sie einen Moment äußerst sorgenvoll an, bevor er ihr lächelnd Mut zuspricht. Wieder ist es Krebs, der so schnell wie möglich herausgeschnitten wird. Und wieder ist es der Vater, der sie als Erster nach der Op besucht. Leise und eindringlich fragt er Saskia nach ihrem größten Wunsch zu Weihnachten. Er wolle alles für sie möglich machen.
„Steht es so schlimm um mich?“ fragt ihn daraufhin Saskia.
„Ich muss dir gestehen, dass ich das denke. Ich habe inzwischen mit mehreren Ärzten gesprochen. Kapazitäten weißt du. Ihres Wissens gibt es in Deutschland bisher keinen Fall eines Lynch-Syndroms, bei dem der Krebs so früh aufgetreten ist. Vielleicht hast du auch zwei Krebsarten gleichzeitig. Jedenfalls breitet er sich rasant aus. Und deswegen habe ich in kurzer Zeit weiße Haare bekommen.“ Er schnäuzt sich ins Taschentuch, während Saskia Tränen in die Augen treten, und geht unruhig im Raum umher.
„Vielleicht gibt es ja ein Wunder und man findet ein Mittel, das ganze auszubremsen.“
„Glaubst du an Wunder?“
„Nicht so leicht, aber im tiefsten Herzen schon.“
Weihnachten darf Saskia zu Hause verbringen. Aber die Freude ist ihr abhanden gekommen. Sie fröstelt innerlich, schaut zu dem hübsch geschmückten Lichterbaum und denkt, dass sie ihn wahrscheinlich nächstes Jahr nicht mehr sehen wird. Helge hat sich nach der Bescherung gleich zu seinem Freund verabschiedet. Sie wollen abends in eine Disco gehen mit allen Weihnachtsspöttern zusammen. Yvonne hat sich heute selbst um das Menü gekümmert, weil ihre Hausangestellten frei haben. Es scheint für sie nichts Wichtigeres als das Essen zu geben. Festlich angezogen serviert sie Mann und Tochter die Speisen, die einsilbig und offenbar mit wenig Appetit im Essen stochern.
„Georg, kannst du dich nicht mal um die Musik kümmern?“ fragt Yvonne.
Georg erhebt sich schwerfällig und legt die Weihnachts-CD auf, die im letzten Jahr Beifall gefunden hat.
An diesem Heiligen Abend ändert sich nicht mehr viel. Alle essen stumm, helfen beim Abräumen und hören ebenso still einer weiteren Weihnachtsmusik zu. Sie gehen ungewöhnlich früh ins Bett. Nur Yvonne hört spät in der Nacht ihren Sohn heimkommen.
∞
Saskia geht es im folgenden Jahr von Monat zu Monat schlechter. Sechs Operationen und eine starke Chemotherapie hat sie schon überstanden. Von ihren Freunden taucht niemand mehr am Krankenbett auf. Ihre Zuversicht ist Resignation gewichen. Sie wird immer bleicher und schwächer. Noch ein paar Wochen, noch ein paar Tage, dann wird es aus sein, denkt sie. Nur ihr Vater kümmert sich jeden Tag um sie, versucht sie aufzumuntern mit Sprüchen oder kleinen Geschenken. Er berichtet von langen einsamen Spaziergängen und gelegentlichen Besuchen in einer Kapelle, in der er inständig um ihre Heilung betet. Sie erfährt, dass er mehrere Ämter aufgegeben habe und in seiner großen Firma nur noch das Notwendigste erledige. Sie würde ihm so gern den Kummer ersparen und versucht in seiner Gegenwart immer so tapfer wie möglich zu sein.
Eines Tages im November sitzt er in der Klinik an ihrem Bett und sieht ausnahmsweise nicht so traurig aus. Irgendetwas muss ihm eingefallen sein.
„Saskia,“ beginnt er. „Was jetzt kommt, ist etwas ganz Schwieriges. Bist du ganz wach?“
„Natürlich, sag schon!“
„Die Ärzte haben mir im Vertrauen gesagt, dass du wahrscheinlich dieses Weihnachten nicht mehr erleben wirst.“
„Warum sagen sie es mir nicht selbst? Ich möchte doch wissen, wie viele Tage mir noch bleiben.“
„Lass gut sein. Sie meinen es nur gut. Aber ich habe mich inzwischen mit etwas ganz Verrücktem beschäftigt. Vielleicht ist das was für dich.“
„Willst du mich auf die Folter spannen? Au, entschuldige, es sind nur diese blödsinnigen Schmerzen.“
„Hier, nimm die nächste Tablette! Sag mir, wenn es anschlägt.“ Nach einer Weile meint Saskia: „Du kannst jetzt gern reden. Was führst du im Schilde?“
„Ich habe gelesen und es haben mir hier die Ärzte bestätigt, dass man dabei ist, an die genetischen Ursachen von Krankheiten heranzugehen. Jedes Jahr machen sie Fortschritte. In Tierversuchen hat schon vieles geklappt. Aber es dauert ja oft Jahrzehnte, bis sie taugliche Medikamente für den Menschen auf den Markt bringen.“
„Und?“
„Deine fürchterliche Krankheit ist erblich bedingt. Wenn man deine Gene reparieren könnte…“
„Papa, du träumst. Ich bin ja jetzt todkrank und nicht in Jahrzehnten.“
„Klar, du hast zur falschen Zeit diese fürchterliche Krankheit, aber vielleicht kannst du sozusagen eine Zeitreise in die Zukunft machen.“
„Papa jetzt spinnst du wirklich!“
„Saskia, du wirst bald sterben. Du weißt, wie traurig mich das macht. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer für uns beide.“
„Du meinst, wenn wir uns im Himmel begegnen?“
„Viel nüchterner: wenn du dich unmittelbar nach dem Tod einfrieren lässt und wir dich dann wieder auftauen, wenn die Medizin so weit ist.“
„Das meinst du doch nicht im Ernst!“
„ Aufgetaute Embryonen haben schon wunderbare Menschen gegeben. Und man hat vor kurzem einen Weg gefunden, die sogenannte Vitrifikation, die es möglich machen soll, dass das Körpergewebe beim Einfrieren nicht so beschädigt wird. Auch hier arbeitet man mit Hochdruck dran, die Schäden beim Einfrieren zu verringern.“
„Was sagt Mama denn dazu?“
„Ich habe