Unverfroren. Madlen Jacobshagen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Madlen Jacobshagen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738085419
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ganz gesund wirst. Das ist die einzige mir verbliebene Hoffnung.“

      „Armer Papa“ Dabei richtet sie sich etwas auf und streichelt liebevoll seine Hand.

      „Ich kann nichts mehr verlieren. Deshalb bin ich einverstanden,“sagt sie nach einer Pause.

      „Dann werde ich mich so bald wir möglich um die Modalitäten kümmern. Das Einfrieren von Menschen ist nämlich in Deutschland verboten. Aber ich habe schon gehört, wie man dieses Verbot umgehen kann. Morgen, spätestens übermorgen sage ich dir Bescheid. Aber sag inzwischen niemand ein Wort darüber.“

      Saskia lächelt, als sie ihren Vater sich aufrichten und raschen Schrittes der Tür zustreben sieht. Sie freut sich über sein Augenzwinkern. Wie in alten Zeiten, als sie noch ein Kind war, haben sie jetzt ein Geheimnis miteinander.

      Saskia bekommt nicht mehr mit, dass ihr Vater schon Tickets nach Amerika für sich und sie gebucht hat. Er will sie dort in eine Klinik bringen, sie dort sterben lassen und sofort vor Ort ihre Präparation und Einfrierung in einem speziellen Institut veranlassen. Sie weiß nichts davon, mit welcher Mühe und Ausdauer sich ihr Vater Spezialkenntnisse über Kryonik, die Wissenschaft vom Einfrieren von Tieren und Menschen, besorgt hat. Sie erlebt auch nicht mehr die Vorbereitung für die große Millenniumfeier in Hamburg.

      Als ihr Vater zwei Tage nach ihrem Gespräch in Eppendorf auftaucht, befindet sie sich bereits in bewusstlosem Zustand in der Intensivstation. Er zögert keinen Moment und leitet sofort ihren Transport mit lebenserhaltenden Infusionen in die USA ein. Alles verläuft nach Plan. Seiner Frau sagt er, dass er einen letzten Heilungsversuch mit Saskia unternehmen will. Wenn sie ihn auf dem Mobiltelefon anzurufen versucht, geht er nicht ran. Immerhin schafft er, es so zu organisieren, dass nur wenige Minuten nach ihrem Ableben die Vorbereitungen für das Einfrieren vorgenommen werden können. Als er das Institut verlässt, ist er einem Zusammenbruch nahe. Er hat tagelang nicht geschlafen und gegessen und schämt sich, seine Frau belogen zu haben. Im Hotel kramt er sich ein paar Kekse aus der Tasche und findet in der Minibar eine Flasche Wasser, die er gierig hinunterspült. Allmählich geht es ihm etwas besser und er setzt sich auf seine Bettkante und grübelt hin und her, was er Yvonne nun sagen soll. Wegen der Zeitverschiebung möchte er sie vor Mitternacht nicht anrufen. Noch bleiben ihm ein paar Stunden, in denen er ganz in Ruhe an seine geliebte Tochter denken kann. Das Gefühl der Hilflosigkeit übermannt ihn wieder. Sie ist tot. Weder die Medizin noch Gebete haben es verhindern können. Ihr Einfrieren ist der einzige Strohhalm, der ihm bleibt. Um nicht verlacht oder in Deutschland juristisch verfolgt zu werden, muss ihre kalte Ruhe sein strenges Geheimnis bleiben. Für lange, vielleicht für immer.

      Yvonne würde ihn nie verstehen. Seit Saskia ein kleines Mädchen war, war sie eifersüchtig auf seine zärtliche Liebe zu dem Kind. Er muss ihr die Wahrheit verschweigen, leider. Als er merkt, er wird müde, stellt er sich den Wecker auf 0.30 Uhr und legt sich aufs Ohr. Bald ist er eingeschlafen.

      Als der Wecker schrillt, weiß er erst gar nicht, wo er ist. Er tastet nach dem Ausstellknopf und geht langsam ins Bad. Eine Handvoll kalten Wassers im Gesicht hilft ihm weiter. Geradezu bedächtig nimmt er sich nun das Telefon vom Tisch und wählt die häusliche Nummer. Nach dem dritten Klingeln hört er ein unwilliges „Ja“.

      „Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber es ist ganz wichtig. Alle Mühe war umsonst. Heute morgen ist Saskia gegen 10.30 gestorben. Sie ist aus dem Koma nicht mehr aufgewacht. Die heilsversprechende Behandlung kam einfach ein paar Tage zu spät. Hallo, hörst du mich?“

      „Klar höre ich dich. Du bist wie immer nicht zu überhören. Das arme Kind! Meinst du, sie hat noch Schmerzen gehabt?“

      „Mit Sicherheit nicht. Trotzdem ist es entsetzlich!“

      „Meinst du für mich nicht? Wenn man seinen Sonnenschein verliert?“

      Kurze Zeit wird ihre Stimme brüchig.

      Georg bleibt am Apparat, sagt aber nichts.

      „Bist du noch dran?“

      „Ja, ich muss jetzt nur umschalten auf das Sachliche. Den ganzen Nachmittag habe ich Formalitäten regeln müssen. Saskia hat mir kurz vor ihrer Bewusstlosigkeit in Eppendorf erklärt, man möge ihren Körper verbrennen, wenn es so weit ist. Das habe ich jetzt in die Wege geleitet. In zwei Tagen wird es geschehen. Das Amt hat mir gesagt, dass in zehn Tagen ihre Urne im Ohlsdorfer Friedhof ankommen wird, wenn nichts dazwischen kommt.“

      „Ach, verbrannt wird sie. Du hast mir verschwiegen, dass sie das wollte!“

      „Wir könnten die Trauerfeier etwa in 14 Tagen ansetzen. Weißt du, welcher Wochentag es ist?“

      „Ich glaube Donnerstag. Dann müssen wir wohl auch auf unsere lange geplante Millenniumsfeier verzichten. Wie viele Leute ich dann noch anrufen muss! Und die Trauerfeier soll ich jetzt allein organisieren, während du dir schöne Tage in Amerika machst?“

      „Yvonne, von schönen Tagen kann gar keine Rede sein. Wann begreifst du endlich, dass wir gerade ein Kind verloren haben?“ Dabei kann er ein Schluchzen nicht unterdrücken.

      „Tschuldige. Sag lieber, wann du kommst.“

      „Morgen Abend werde ich in Hamburg sein. Ich rufe dich vom Flughafen aus an, okay?“

      Als sie nichts erwidert, legt er auf. Das hatte er geschafft! „Sie wird bestimmt nicht in eine Gruppe für verwaiste Eltern gehen. So viel steht fest,“ flüstert er vor sich hin. Ihm graut schon davor, mit ihr morgen Abend die Anzeige aufzusetzen und aufzuschreiben, wer alles benachrichtigt werden muss. Der Blumenschmuck muss ausgesucht werden und der ganze Mist. Alles wird sie nur vom Feinsten haben wollen. Wie immer. Mit dem Pfarrer will er lieber selber sprechen. Morgen früh, überlegt er, will er Helge anrufen, dann wird er aus der Schule sein. Es wird auch für ihn schlimm sein, denkt er. Schon seit längerem geht er wie ein eingesperrter Tiger in seinem großen Hotelzimmer hin und her, immer im Kreis. Wem in aller Welt kann er nur anvertrauen, dass ihr Körper jetzt in einem Institut für Kryonik liegt und dass er einiges Geld dafür hinblättern musste? Ihm fällt niemand ein. Niemand. Schließlich stoppt er wieder bei der Minibar und schenkt sich einen doppelten Whisky ein. „Und doch war es richtig!“ sagt er dann laut. Die Worte klingen noch länger nach, bis er endlich zur Ruhe kommt, und der Schlaf gnädig seine Verzweiflung überdeckt.

      15 und 17 Jahre später

      In den ersten Jahren nach ihrem Tod hatte Georg mit Yvonne um Saskias Zimmer gekämpft. Seine eindrücklichen Bitten, doch alles zu lassen wie es ist, hatte sie mit höhnischen Bemerkungen zurückgewiesen. Erst als er mit drohendem Ton sagte, wenn sie das Zimmer auch nur ein bisschen verändere, würde er das ganze Haus verkaufen und zwar umgehend. Das saß. Seit dieser Zeit ging er, so oft er in Hamburg war, immer für ein paar Minuten in ihren Raum, um an sie ganz im Stillen zu denken. Er freute sich an dem riesigen Bücherregal, in dem auch so viele englische und französische Bücher standen, die sie alle verschlungen hatte. Wegen ihrer außergewöhnlichen Sprachbegabung wollte sie ja Anglistik und Romanistik studieren. Bis alle ihre Ziele wie eine Seifenblase platzten. Gewöhnlich beendete er seine Erinnerungsandacht mit einem kurzen Blick aus dem Fenster und begab sich dann in andere Räume der großen Villa an der Elbchaussee. Am liebsten ging er als Erstes in die Küche, weil es dort warm und gemütlich war und so köstlich nach den Speisen roch. Auch konnte er sich ausgezeichnet mit der Köchin unterhalten, die sie in den letzten Jahren angestellt hatten. Helge wohnte zwar noch im Haus, hatte aber einen so unsteten Lebenswandel, dass es sehr schwer war, ihn anzutreffen. Yvonne war, wie er nicht ungern bemerkte, sehr häufig mit irgendwelchen Damen zum Shoppen, Golf oder Bridge verabredet, sodass er ungestört seinen Gedanken und Gefühlen nachhängen konnte.

      In manchen Momenten wurde ihm sehr schmerzlich bewusst, wie unbefriedigend seine Beziehung zu Yvonne inzwischen geworden war. Dabei hatte alles so heiter und normal angefangen! Als er sie kennen lernte, war sie ein hübsches, natürliches Mädchen, die ihn ansteckte mit ihrer Lebensfreude. Sie hatte mit viel Talent sein Büro organisieren können und sah einfach fantastisch aus. Wie toll sie tanzen konnte! Ja, damals trug sie ihr blondes Haar noch