Rolf blickte auf seine Taschenuhr. Er musste sich beeilen, wenn er den Zug noch erwischen wollte. Geld und Ausweispapiere trug er immer bei sich.
Rolf wollte zunächst mit der Bahn nach Frankfurt fahren und von dort einen Zug nach Paris nehmen. Vorsichtshalber stellte er sein auffälliges Fahrrad ein paar Straßen weiter ab. Er legte die paar Schritte zum Bahnhof zu Fuß zurück.
Bauer Harms wartete vor dem kleinen Haus am Kanalweg auf die Polizei, die er inzwischen benachrichtigt hatte. Er scheute sich davor, noch einmal hineingehen. Er mochte dem Tod nicht mehr ins Auge schauen. Und er hoffte inständig, dass Erika vor ihrem Tod wenigstens nicht gelitten hatte. Endlich kamen sie. Der Zivilbeamte stellte sich mit Kommissar Jansen vor. Er war in Begleitung von Hauptwachtmeister Dirks, der eine Polizeiuniform trug. Auch sie konnten nach kurzem Augenschein ebenfalls keine äußeren Verletzungen feststellen. Bauer Harms wusste nichts Näheres zu berichten. Er war ja zu spät gekommen. Da lag Erika schon tot auf dem Boden in der Küche. Neben den gelben Rosen.
Vielleicht hatte die Tochter, Ida, ja etwas gesehen? Der Kommissar machte sich Notizen.
Der Leichnam wurde in die Pathologie zur Feststellung der Todesursache gebracht.
Jansen suchte die immer noch völlig verstörte Ida auf und befragte sie. Er wählte seine Fragen sehr behutsam und vorsichtig, um die Kleine nicht noch mehr zu erschrecken.
Sie hatte den Mann angeblich noch nie gesehen. Ein Fremder war das gewesen. Und es ging alles so schnell. Plötzlich war er da. Der Kommissar schüttelte den Kopf und hob die Augenbrauen. Warum war er da? Kannte ihn deine Mutter? Ida verhielt sich verstockt. Sie sagte plötzlich überhaupt nichts mehr, sondern schwieg und man ließ sie daraufhin erst einmal in Ruhe. Ida wusste nicht, wie ihre Mutter gestorben war. Aber dass sie tot war, hatte man ihr gesagt. Und dass der Mann sie umgebracht hatte. Der fremde Mann. So schonend wie möglich versuchte der Kommissar, Ida den Tod ihrer Mutter begreiflich zu machen. Daraufhin hatte sich Ida vollends in ihr Schneckenhaus verkrochen. Sie zeigte keine äußerliche Reaktion. Ida war wie versteinert. Sie gab sich die Schuld am Tod ihrer Mutter. Schwere Schuldgefühle sollten sie Zeit ihres Lebens begleiten.
Der Pathologe bescheinigte später einen Tod durch Fremdeinwirkung. Erika starb an einem Genickbruch, der nicht durch einen Sturz verursacht worden war. Sie war gewaltsam getötet worden.
Zeugen wurden befragt. Einige wollten Ida öfter mit einem jungen Mann auf dem Fahrrad gesehen haben. Die Beschreibung war allerdings dürftig und fiel auch
unterschiedlich aus.
Jansen entschloss sich, Ida noch einmal aufzusuchen. Trog ihn sein Gefühl oder verbarg das Mädchen etwas? Er war sich nicht ganz sicher.
„Warst du in letzter Zeit öfter mit einem jungen Mann unterwegs?“ wurde Ida am nächsten Tag gefragt. Sie schüttelte heftig den Kopf. Ida blieb stumm und zog sich in ihre Welt zurück. Sie wollte mit niemandem reden. Der Kommissar gab es auf, denn mit Gewalt konnte er Ida nicht zwingen, das zu sagen, was sie scheinbar wusste, aber verschwieg. Ida versuchte krampfhaft, ihr traumatisches Erlebnis zu verdrängen.
Zwei ältliche Damen vom Fürsorgeamt kümmerten sich anschließend um das Kind. Ida mochte diese nicht. Besonders die eine nicht, die sich Fräulein Ronneberger nannte und aussah wie eine dünne Ziege und so stechende Augen wie ein Adler hatte. Außerdem schien es ihr, als ob diese auf sie herab sah. Was hatte sie denn getan? Mehr und mehr schlich sich in Ida das Gefühl ein, etwas ganz Böses angerichtet zu haben.
Aber das andere Fräulein vom Fürsorgeamt war ihr auch nicht sonderlich sympathisch. Sie hatte das graue Haar hinten zu einem Dutt zusammengebunden und sah aus wie eine alte Jungfer, die kein Verständnis für kleine Mädchen aufzubringen vermochte. Und das stimmte. Den beiden Damen vom Amt war Ida völlig egal. Sie taten nur ihre Pflicht. Die Fürsorgerinnen brachten Ida in das kirchliche Kinderheim der nahen Kreisstadt, wo sie fortan leben sollte. Ein längerer Verbleib bei Bauer Harms, der sie vorübergehend aufgenommen hatte, war nicht möglich. Und ihre Tante hatte schon vier Kinder zu versorgen und konnte sich ihrer Nichte nicht auf Dauer annehmen. Ihre Großeltern waren mit der Betreuung ihrer Enkeltochter überfordert, seitdem der Großvater schwer erkrankt war und der ständigen Pflege durch seine Frau bedurfte. Nur besuchsweise wollten sie Ida haben. Andere nahe Verwandte besaß Ida nicht. Ihre Großeltern väterlicherseits lebten nicht mehr. Sie waren beide bei einem Bombenangriff im zweiten Weltkrieg umgekommen.
Jansen befragte auch Erikas Kolleginnen. Einige hatten sie einmal im Kino mit einem jungen Mann gesehen. Wie der aussah? Gut sah der aus, groß, schlank, dunkelhaarig. Er trug einen braunen Anzug. Und einen Hut. Aber kennen würden sie den nicht. Ihre Kollegin Erika hatte immer ein großes Geheimnis um diesen Mann gemacht und auf alle neugierigen Fragen geschwiegen, so sehr die anderen auch bedrängten. Sie hatten nichts aus Erika herausbekommen. Nicht das Geringste.
Auch der Vorarbeiter konnte ihm in seinen Ermittlungen nicht weiterhelfen. Erika war an jenem Tag, ihren Todestag, wegen einer Migräne auf eigenen Wunsch früher nach Hause gegangen. Das war an sich nichts Besonderes, denn es kam öfter vor, dass sich eine der Arbeiterinnen krank meldete. Jedoch Erika war ihr Unwohlsein zum Verhängnis geworden. Janssen musste sich schließlich mit dem Stand der Dinge zufrieden geben. Er hasste es, einen Fall nicht abschließen zu können. Jedoch bei dieser Sachlage musste er wohl akzeptieren, dass ihm Grenzen gesetzt waren.
Weil auch Ida standhaft schwieg, wurde der Mord an dem im Juni 1951 am Deich gefundenen Mädchen zunächst nicht mit dem Tod der Erika Hinrichs, Idas Mutter, in Verbindung gebracht. Kommissar Jansen blätterte nun schon zum wiederholten Male in der Akte des unbekannten Mädchens, die er wieder herausgesucht hatte. Er las den Bericht des Pathologen noch einmal mit höchster Aufmerksamkeit, konnte aber auch jetzt nichts anderes herauslesen. Ein sexueller Missbrauch war bei dem toten Mädchen, das am Deich gefunden worden war, zweifelsfrei ausgeschlossen worden. Das hatte der Arzt in seinem Bericht festgehalten. Der Tod war durch Ersticken eingetreten. Der Pathologe hielt auch einen Asthmaanfall, ausgelöst durch eine Panikattacke, nicht für ganz ausgeschlossen. Aber legt sich ein Kind einfach ins Gras und erleidet einen Asthmaanfall? Kommissar Jansen schürzte die Lippen und dachte nach. Und wie und vor allem mit wem ist sie dorthin gekommen? Eine Vermisstenanzeige war bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht eingegangen, auch nicht bei den umliegenden Polizeibehörden.
Zu viele Fragen ohne Antworten. Andere Verletzungen wies der Körper nicht auf. Trotzdem plagte ihn das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Und plötzlich fiel es ihm ein:
Jansen war im letzten Jahr bei dem Leichenfund des Mädchens am Deich dabei gewesen. Die Ähnlichkeit mit Ida, das war es! War das Zufall? Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an. Gedanklich setzte er die Teile, die seiner Meinung nach zusammen gehören könnten, aneinander, bis sie ein vollständiges Bild ergaben. Erika Hinrichs musste den so genannten Kinderfreund mit ihrer Tochter überrascht haben. Vielleicht hatte sie ihrem Mörder sogar gedroht. Auf welche Weise sich der Tatvorgang auch ereignet haben mochte: Ihr frühes Heimkommen an ihrem Todestag hatte Erika Hinrichs mit ihrem Leben gebüßt.
Wahrscheinlich war es derselbe Mann, der auch das unbekannte Mädchen auf dem Gewissen hatte. Ein Kinderfreund. Jansen stützte sich mit den Armen auf seinen Schreibtisch und dachte über diesen Mann nach. Er versuchte sich vorzustellen, was in so einem Menschen wohl vorgegangen sein mag. Als er sich von seinem Stuhl erhob, war der Aschenbecher mit vier ausgedrückten Zigaretten gefüllt.
Er befragte daraufhin Ida Tage später noch einmal.
„Kanntest du den Mann, der bei deiner Mutter war? Hat er dir etwas getan? Hat er dich angefasst?“
Aber Ida schwieg auch jetzt beharrlich, schüttelte nur verneinend mit dem Kopf und sah mit trotzigem Gesichtsausdruck auf den Boden. Der Kommissar ließ jedoch nach dem Unbekannten fahnden. Da nur eine äußerst dürftige Täterbeschreibung vorlag, würde die Fahndung wohl im Sande verlaufen. Das ahnte er jetzt schon. Die Ermittlungen würden