Ida blieb stumm.
„Und sicher werde ich dann nicht mehr wieder kommen. Nie mehr.“
Bei diesen Worten erschrak Ida fürchterlich.
Natürlich wollte sie das nicht. Nur das nicht. Sie würde niemandem ein Sterbenswörtchen verraten, auch ihrer Mutter nicht, versprach sie ihm hoch und heilig. Nun war Rolf zufrieden und wurde ein wenig fordernder, jedoch Ida hielt immer noch still. So schlimm war das auch wieder nicht. Väter müssen wohl so sein. Irgendwann hatte sie aufgeschnappt, dass Rolf ihrer Mutter gegenüber eine Heirat erwähnt hatte und dann würde sie, Ida, doch seine Tochter sein. Und er wollte ihr doch ein funkelnagelneues Fahrrad schenken! Und Ida klammerte sich an diese beiden Gedanken. Was könnte sie alles mit einem Fahrrad unternehmen. Sie könnte fahren, wohin sie wollte. Kein Ort war mehr zu weit. Auch ihre Großeltern würde sie nun öfter besuchen können.
„Willst du nicht dein Höschen ausziehen, meine kleine Nachtigall?“ flüsterte Rolf ein wenig aus der Puste, wie Ida fand. Aber warum sollte sie vor ihrem künftigen Vater Geheimnisse haben? Und sie kam seinem Wunsch, wenn auch zögerlich und verwundert, nach.
Ida spann ihren Gedankengang weiter. Ob sie sich wohl die Farbe des Fahrrades aussuchen dürfte? Ich werde ihn gleich danach fragen. Ich möchte auch ein blaues haben. Und glänzen sollte es. Es würde in der Sonne funkeln.
Erika war bei ihrer Akkordarbeit unkonzentriert. Sie plagten heftige Kopfschmerzen und sie sah sich gezwungen, sich bei ihrem Vorarbeiter krank zu melden, der zwar nicht begeistert war, aber schließlich nachgab. Krankmeldungen sah er nicht so gern, zumal ein wichtiger Auftrag zu erfüllen war.
„Morgen bin ich sicher wieder auf den Beinen,“ versprach sie. Ein Versprechen, das sie nie einlösen würde.
Erika packte ihre Sachen. Unterwegs kaufte sie noch ein Roggenbrot sowie ein Pfund Mehl für die Pfannkuchen in dem kleinen Lebensmittelladen ein. Sie wusste, dass auch Rolf gerne Pfannkuchen aß, am liebsten mit Apfelmus. Genau wie Ida. Und nächste Woche würde sie Sauerkraut mit Stampfkartoffeln zubereiten. Vielleicht war es dann auch nicht mehr so heiß. Bauer Harms hatte ihr ein Stück geräucherten Kassler versprochen. Dann machte sie sich auf den Weg. Sicher freute sich Ida, dass sie ein paar Stunden früher zu Hause war. Das schlechte Gewissen plagte sie wieder. Sie musste sich wirklich mehr um ihre Tochter kümmern. Aber vielleicht würde sich ja nun alles zum Guten wenden. Und sie könnte aufhören zu arbeiten, wenn Rolf für sie alle sorgen würde. Sie würden eine richtige Familie sein. Auch gegen ein zweites Kind hätte sie nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Das wäre schön. Und während Erika langsam den Kanalweg entlang fuhr, verlor sie sich in ihren Träumen. Ob Rolf jetzt schon da war? Erika freute sich auf Zuhause und begann, ein etwas schnelleres Tempo zu fahren. Ihre Kopfschmerzen waren mit dem Wind davongeflogen.
Schon von weitem sah sie sein blaues Fahrrad an der Hecke lehnen.
Ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Wahrscheinlich waren die beiden im Haus
und Erika bemühte sich, leise zu sein, um sie zu überraschen. Vorsichtig stellte sie ihr Fahrrad an der Hecke ab und näherte sich auf Zehenspitzen der geschlossenen Haustür. Die unnatürliche Ruhe, die von dem Haus ausging, ließ sie ein wenig verwundern. Es war kein Laut zu hören, plapperte Ida doch sonst so gerne darauf los.
Sie öffnete behutsam die Tür und blieb starr vor Schreck im Türrahmen stehen. Ihr Gesicht war plötzlich leichenblass, denn das Bild, das sich ihren Augen bot, ließ sie innerlich erzittern. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dieser Wüstling es die ganze Zeit auf Ida abgesehen hatte. Ihr Herzschlag schien eine Sekunde lang auszusetzen, um gleich darauf im Galopp gegen ihre Rippen zu hämmern. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie befürchtete, auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Das darf ich nicht. Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden, ich muss jetzt durchhalten. Sie wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht: Ich muss meine kleine Tochter von diesem Monster befreien. Und Erika mobilisierte den kläglichen Rest ihrer Kräfte und nahm sich gewaltsam zusammen, um Ida zu befreien.
Bei ihrem unerwarteten Eintritt sah Rolf unwillig zur Tür. Seine Miene schwankte zwischen Erstaunen, Erschrecken und Missbilligung. Aber Ida hatte nichts mitbekommen, denn sie lag auf dem Sofa außerhalb des Blickfeldes. Ausgestreckt wie eine nackte kostbare Porzellanpuppe. Rolf trug nur seine Unterhose, die er sich kurz vor Erikas Erscheinen wieder angezogen hatte. Erika brachte zunächst keinen Ton heraus. Doch dann besann sie sich, stürmte wie eine Furie auf Rolf los und stieß ihn zur Seite, so dass sein Kopf gegen den hölzernen Küchenschrank stieß. Rasch eilte sie zum Sofa und packte Ihre Tochter, die sie erstaunt anblickte.
„Mama, sei nicht böse, Rolf wollte doch nur nett zu mir sein und hat mit mir gespielt. Es hat nur ein ganz kleines bisschen weh getan. Und bald bekomme ich ein neues Fahrrad. Ein nagelneues.“
Warum war ihre Mutter nur so wütend? Nicht einmal die Aussicht auf ein so schönes Geschenk ließ sie erweichen. Doch Erika hörte ihr gar nicht zu, sondern stülpte ihr hastig das geblümte Kleid über den Kopf und zog ihr den Schlüpfer wieder an.
„Man zieht sich nicht vor einem Fremden am helllichten Tage nackt aus,“ flüsterte Erika, mehr zu sich selbst. „Fremder?“ dachte Ida irritiert. War Rolf denn ein Fremder? Und am helllichten Tag? Sie hatten doch nichts Verbotenes getan. Das hatte ihr Rolf doch versprochen. Sie hatten doch nichts Unrechtes getan?
Unvermittelt drehte sich Erika zu Rolf um und funkelte ihn zornig an. So aufgebracht hatte Ida ihre Mutter noch nie erlebt.
„Ich werde dich anzeigen, du mieses Schwein,“ schrie sie Rolf wütend zu. Ihre Stimme klang schrill und laut. Rolf hatte sich durch den Aufprall am Schrank verletzt. Mit der einen Hand hielt er seinen Kopf und mit der anderen zog er sich seine Anzughose über. Doch kaum hatte er ihre Worte erfasst, rastete er unvermittelt aus und stürzte sich mit hochrotem wutverzerrten Gesicht und hasserfüllten Augen auf Erika, die sich panisch in eine Ecke der Küche flüchtete. Dabei kippte sie eine kleine Blumenvase um, die auf einer Kommode stand. Das Wasser aus der Vase ergoss sich auf den Boden und die gelben Rosen breiteten sich dekorativ auf dem gemusterten Teppich aus. Alles schien unwirklich.
„Lauf zu Bauer Harms, Ida, schnell,“ rief sie ihrer Tochter in äußerster Panik zu.
Erika hockte zitternd mit angezogenen Knien in der Ecke, als erwarte sie ihr Todesurteil.
In dem festen Bewusstsein, nun doch etwas furchtbar Schlimmes angerichtet zu haben, stürmte Ida aus der Tür und rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben, nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Meine Mutter ist in Gefahr. Aber warum nur? Warum waren beide so wütend aufeinander? Sie waren doch sonst ein Herz und eine Seele gewesen. Was war denn plötzlich anders geworden? Das konnte doch nur mit ihr selbst zusammen hängen. Am helllichten Tag. Ja, sie gab sich die alleinige Schuld an dem schrecklichen Zerwürfnis zwischen ihrer Mutter und Rolf.
Ida hetzte den Kanalweg entlang und erreichte den kleinen Bauernhof völlig außer Atem. Sie fand Bauer Harms im Stall vor. Das wusste sie, denn er war um diese Zeit meistens im Stall und am Tage fast nie im Haus aufzufinden. Erstaunt blickte er auf Ida, die vor Aufregung zunächst kein Wort herausbrachte.
„Meine Mutter,“ hechelte sie und rang nach Luft. „Was ist mit deiner Mutter?“ fragte er, nun hellhörig geworden. Anscheinend schien etwas Außergewöhnliches geschehen zu sein, denn so kannte er das Mädel nicht. Er versuchte, Ida zu beruhigen und berührte ihre Schulter.
„Ganz langsam Mädchen, was ist los?“
„Ein Mann,“ stammelte Ida, verschwieg aber Rolfs Namen. „Ein fremder Mann ist bei ihr. Sie müssen ihr helfen.“ Und sie begann heftig zu schluchzen und am ganzen Körper zu zittern.
Bauer Harms fackelte nicht lange. Er zog sofort die Gummistiefel aus, hängte seine
Arbeitskleidung an den Nagel der Stalltür und ging mit langen Schritten ins Haus, gefolgt von Idas kleinen Trippelschritten. Bauer Harms stürmte in den Hausflur seines Hauses.
„Stine,“