Das Mädchen Ida. Maya Khoury. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maya Khoury
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847629344
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Ida hatte in den langen Tagen des Wartens feste Grundsätze gefasst. Nie mehr würde sie sich gegen seine Zärtlichkeiten wehren! Er wollte doch ihr Vater sein. Da musste sie sich doch anpassen. Es lohnte sich, für Rolf kleine Opfer zu bringen. Das war doch nicht schlimm. Auch ihre Mutter vermisste Rolf in den ersten Tagen. Jedoch im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie nicht so viel Zeit zum Nachdenken, denn ihre Arbeit nahm sie bis zu ihrem Urlaub voll in Anspruch. Und man musste Rolf wohl Zeit lassen, wusste sie denn, was der Krieg ihm angetan hatte? Bisher war er schweigsam geblieben, was seine Vergangenheit betraf. Sicher plagten ihn die Erinnerungen an schwere Kriegserlebnisse. Aber sie musste zugeben, dass ihr so gut wie nichts aus seinem Leben bekannt war. Verheiratet war er nicht, das hatte er einmal erwähnt. Und mit Nachnamen hieß er Schneider. Ein ganz normaler häufiger Name. Aber was wusste sie sonst von ihm? Eigentlich nichts, was ihr weiterhalf. Und erst recht nichts, was sein bisheriges Leben betraf. Von sich selbst gab er nie auch nur das Geringste preis. Im Nachhinein machte sie das stutzig.

      Ihr Unterbewußtsein sträubte sich, hinter Rolfs glatte Fassade zu blicken. Sie gab sich der Illusion hin, er sei der Mann fürs Leben. Und warum sollte er das nicht sein? Sie hatte solange auf eine Änderung in ihrem Leben gewartet. Nun war die Zeit endlich gekommen. Und Idas Begeisterung für Rolf wollte sie nicht dämpfen. Die kindlichen Zärtlichkeiten zwischen ihrer Tochter und ihm hielt sie in ihrer Naivität für völlig normal. Kinder sind nun einmal anhänglich, wenn sie jemandem vertrauten und ihn mochten. Den Begriff Liebe verdrängte sie wohlweislich.

      Erikas Urlaub neigte sich bereits dem Ende zu. Vielleicht hatte Rolf sie ja beide vergessen.

      Doch er hatte sie nicht vergessen. Unverhofft erschien er endlich an einem Nachmittag, nach drei qualvollen Wochen des Wartens, als sei nichts geschehen. Ida war wieder allein. Sie saß vor dem Haus im Gras und flocht gerade einen Kranz aus Gänseblümchen, als sie seine quietschende Fahrradbremse vernahm. Achtlos warf sie den fast fertigen Kranz beiseite und eilte ihm entgegen. Und er schleuderte sein schönes Fahrrad einfach ins Gras und nahm sie in seine Arme.

      „Hast du mich etwa vermisst?“ fragte er, sah sie lächelnd an und wartete ihre Antwort gar nicht ab. „Ich habe dich auch vermisst,“ sagte er und hielt sie von sich. „Lass mich einmal sehen, wie du aussiehst.“

      Er hielt sie mit einem langen Blick fest. „So schön wie immer. Du bist meine kleine Nachtigall.“ Sie fühlte sich äußerst geschmeichelt und konnte vor Aufregung gar nicht sprechen. Rolf schien noch mehr sagen zu wollen, aber er schluckte die Worte hinunter. Er wollte Ida nicht erschrecken. Dafür war später noch Zeit. Er nahm seine Aktentasche vom Gepäckträger des Fahrrades.

      „Ich stelle meine Aktentasche im Haus ab und wir radeln ein Stück,“ schlug er vor.

      „Was meinst du?“

      Ida war natürlich einverstanden. Ihr war jeder seiner Vorschläge recht. Sie hätte auch nicht gezögert, ihn zum Mond zu begleiten.

      Die beiden fuhren den üblichen Weg und machten hinterm Deich eine kurze Verschnaufpause. Und Ida war selig.

      „Ich habe dir auch etwas mitgebracht,“ sagte Rolf nun. „Das bekommst du zu Hause. Es ist in meiner Aktentasche.“

      Er legte sich ausgestreckt ins Gras. „Es gibt aber noch eine Überraschung,“ schmunzelte er und legte seine Arme hinter den Kopf. Ida sah ihn erwartungsvoll an. „Was denn?“ fragte sie schmeichelnd.

      Rolf konnte sich an ihr nicht satt sehen. Was für ein schönes Mädchen, dachte er und sagte:

      „Ich habe ein Fahrrad für dich bestellt.“ Ida sprang sofort freudig auf und war kaum mehr zu bändigen. Sie tanzte ausgelassen auf einem Bein im Gras umher, bis sie das Gleichgewicht verlor und in voller Länge lachend auf den Boden fiel. Niemand aus ihrer Klasse besaß ein Fahrrad, nicht einmal Manfred, der Sohn des Friseurmeisters, der in ihrer Klasse ging. Damit würde sie ordentlich angeben können.

      „Setz dich wieder hin und leg dich zu mir, meine kleine Nachtigall,“ lächelte Rolf ob ihres ausgelassenen Begeisterungsausbruches und deutete mit dem Arm auf das Gras.

      Das tat sie. Ida legte ihren Kopf in seine Armbeuge. „So ist es schön,“ seufzte er zufrieden und blickte in den Himmel, an dem in rasender Geschwindigkeit dunkle drohende Wolken aufzogen.

      Sie blieben eine ganze Weile so liegen, bis Rolfs Arms eingeschlafen war.

      Vorsichtig zog er diesen zurück und setzte sich auf. Da bemerkte er, dass Ida fest eingeschlafen war. Er legte sich neben sie, hob ihren Rock hoch und streichelte sie mit entrücktem Gesichtsausdruck. Aber Ida wurde plötzlich wach und gähnte laut. Er lachte. „Komm Schlafmütze, steh auf, wir müssen zurück. Es gibt ein Gewitter.“ Tatsächlich war der Himmel inzwischen dunkel. Schwarze Gewitterwolken türmten sich am dunklen Himmel auf, als stände der Weltuntergang bevor.

      Rolf trat mächtig in die Pedalen. Sie erreichten gerade noch vor dem dicken Regenguss Idas Zuhause. Ihre Mutter hatte schon Feierabend, verhielt sich jedoch äußerst zugeknöpft Rolf gegenüber, weil er sich so lange nicht gemeldet hatte. Jedoch war sie sich bewusst, dass es ihr nicht zustand, ihm Vorhaltungen zu machen. Aber Rolf störte sich nicht im Geringsten an ihrem Verhalten, sondern regelte das auf seine Weise. Er öffnete seine braune Aktentasche und legte ein paar hauchdünne Nylonstrümpfe für Erika auf den Tisch. Und ein paar weiße Stöckelschuhe aus feinstem Leder. Ihr blieb fast vor Staunen der Mund offen stehen und sie brachte kein Wort heraus. In Gedanken sah sie schon die neidischen Blicke ihrer Freundinnen. Rolf zeigte sein betörendes Lächeln.

      „Für dich,“ sagte er überflüssigerweise. Er hatte nun auch die Mutter wieder versöhnlich gestimmt. Dann zauberte er eine wundervolle kleine Armbanduhr, verziert mit bunten Schmetterlingen, für Ida aus seiner Aktentasche. Und zwei rote Zopfspangen, auf dem jeweils ein kleines Vogelpärchen saß. Ida machte begeisterte Luftsprünge und freute sich unbändig.

      „Woher hast du die Sachen?“ fragte Erika später, als sie allein waren und Ida in ihrem Bett lag.

      „Geschäfte,“ erwiderte Rolf ungehalten und wollte nicht darüber sprechen. Er war der Meinung, das würde sie nichts angehen. Später aßen sie den Inhalt von Rolfs mitgebrachten Konserven: Wurst, Pfirsiche und Rindfleisch. Und Erdnussbutter. Davon hatte Erika noch nie etwas gehört. Doch Ida mochte die Butter nicht.

      „Die isst man in Amerika täglich," klärte Rolf die beiden auf. Schließlich verabschiedete er sich von Mutter und Tochter und versprach, übermorgen wieder zu kommen. Ida war trotzdem enttäuscht. Wieder zwei ganze Tage ohne ihn! Wieder gähnende Langeweile. Aber sie freute sich unbändig auf das versprochene Fahrrad. Und die Vorfreude ließ sie die Enttäuschung schnell vergessen.

      Das Verbrechen

      August 1952 bis März 1953

      Er erschien schon vormittags in strahlender Laune und Ida strahlte. Sie gingen erst einmal ins Haus, denn Rolf gab vor, müde zu sein. Er wirkte ein wenig erschöpft und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Erika würde erst am Abend von der Arbeit heim kommen.

      Rolf setzte sich auf das Sofa. „Setz dich neben mich,“ bat er lächelnd und seine Müdigkeit flog wie ein Vogelschwarm davon, als er seine kleine Nachtigall anblickte. Das ließ sich Ida nicht zweimal sagen.

      Sie kuschelte sich sogleich an Rolf, der sie zart an sich zog. So saßen sie einträchtig

      eine ganze Weile beieinander, bis er, nun ein wenig kurzatmig, sagte:

      „Es ist so warm hier, warum ziehst du nicht dein Kleid aus?“ Und er verschlang sie gierig mit seinen Augen.

      Ida stutzte, tat aber wie geheißen. Sie wollte doch nicht schon wieder so ein langes Fernbleiben von Rolf in Kauf nehmen. Etwas eigenartig fand sie seine Verhaltensweise schon, als er sie mit seinen Blicken abtastete. Aber Ida war zu jung, um sein Mienenspiel und sein Gebaren deuten zu können.

      „Sag nur nicht deiner Mutter, dass du dein Kleid ausgezogen hast. Hörst du? Sonst passiert etwas ganz Schlimmes,“ bat Rolf eindringlich. „Und