Die Endzeitpropheten. Hermann Christen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Christen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742730626
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Kurs belegten, waren bisher nicht aufgefallen. Es schien an der Uni eher eine Art Gag zu sein, Beckers Kurse zu besuchen.

      Er kannte ihn flüchtig. Er hatte ihn ein-, zweimal während seiner Recherchen getroffen. Er erinnerte sich an Becker als einen weltfremden, freundlichen Mann, der sich kaum um die ihm anvertraute Gemeinde kümmerte und lieber seinem Steckenpferd, der Altzeit und den Endzeitpropheten, nachjagte. Auf den ersten Blick war Becker höchstens als skurrile Figur einzuschätzen.

      Doch jetzt war der Dämon der katholischen Kirche wieder aufgetaucht und Becker hatte ihn aufgescheucht.

      Eine Fußnote des Berichtes erklärte, dass das Institut für Prähistorik seit 25 Jahren bestand. Becker war der erste und einzige Inhaber dieses Lehrstuhles. Hirsch stutzte, wirbelte die Dokumente mit hastigem Wischen auf dem Bildschirm herum. Es gab keinen Hinweis, wer der Initiator für die Gründung des Instituts war. Wahrscheinlich Schlampigkeit seiner Mitarbeiter, vielleicht aber auch nicht. Es schien ihm wichtig genug, eine persönliche Notiz anzulegen, die ihn an diese offene Frage erinnern sollte. Er las weiter.

      Beckers Eltern lebten vor seiner Geburt auf der Erde in Basis V. Gemäß Akte litt seine Mutter unter der Schwerkraft und das Paar kehrte zur Kolonie zurück. Becker selber war nur einmal auf der Erde gewesen, um sein Amt zu übernehmen.

      Er holte sich zusätzliche Informationen auf den Schirm. Becker war ein digital abstinenter Zombie. Die letzte private Kommunikation im Telespeak lag Jahre zurück. Selbst in den 'freien Foren' war er inaktiv. Die 'freien Foren' waren die geniale Erfindung eines seiner Vorgänger, in denen sich die Leute vor der Überwachung durch die ÜKo sicher fühlten und sorglos Verschwörungstheorien verbreiteten und die Väter beschimpften. Die 'freien Foren' waren eine Goldgrube für die ÜKo, aber im Fall Becker gaben sie nichts her.

      Hirsch kratzte nachdenklich am faltigen Kinn und lehnte sich zurück. Becker war augenfällig selbst unter den Katholiken ein Außenseiter.

      Die Katholiken! Er verstand die eigenartige Milde der Regierung dieser Sekte gegenüber nicht. Doch es lag nicht an ihm, die Entscheide der Väter in Frage zu stellen. Er war der Befehlshaber der ÜKo und seine Pflicht war es, für Stabilität in der Kolonie zu sorgen. Stabilität war die Basis von Allem.

      Die Väter und die hohen Offiziere hatten das Wissen, wie man eine Wiederholung der Großen Säuberung verhinderte. Informationen, die kurz nach dem Morden in waghalsigen Einsätzen auf der Erde gerettet wurde. Er hätte seinen rechten Arm dafür gegeben, eines dieser Sonderkommandos befehligen zu dürfen.

      Die Väter agierten geschickt und vorausschauend, hielten die Klasseunterschiede unter den Kolonisten klein. Sie ließen die Leute an die Demokratie glauben. Doch die Stellräder, an denen die gewählten Politiker hantierten, drehten im Leeren und störten den Gesamtplan nicht. Über dieses Konzept gestülpt griff die allumfassende Überwachung durch die ÜKo.

      Was auch immer Becker während seiner Studien mitbekommen hatte, es war ein zurechtgebogener, weichgekochter Abklatsch der Wahrheit. Eine didaktisch ausgeklügelte Version der Geschichte die unterstrich, wie klug sich die Kolonie während und vor allem nach der Großen Säuberung verhalten hatte. Der Lehrgang verschwieg hingegen die zerstörerische Macht der konkurrierenden Gesinnungen, welche die Menschen der Altzeit in Atem hielten. Der Lehrgang verschwieg, dass diese Weltanschauungen die Schmierseife waren, auf der die Welt ausglitt und ins Elend schlitterte.

      Am Ende war es egal, ob die Katholiken oder sonst eine verdrehte Gruppierung die Große Säuberung auslöste. Die Katholiken unterschieden sich von allen anderen nur dadurch, dass es sie wieder gab.

      Hirsch wusste Bescheid. Mehr als ihm lieb war. Er erinnerte sich an seinen Mentor, Vater Krug, der während der höheren Offiziersschule aufzeigte, wie krank die Menschheit vor der Großen Säuberung war.

      Den Leuten fehlte ein gemeinsames Ziel, eine Vision, die sie alle vereinigen konnte. Stattdessen prallten Ethiken, Religionen, politische und wirtschaftliche Strömungen aufeinander, rieben sich und erhitzten die Gemüter. Es war das goldene Zeitalter der Marktschreier, der Scharlatane und Lügner, der Egozentriker und Gierigen. Die Menschenmassen wurden mit Widersprüchen bombardiert und verwirrt. Es war egal, welcher Gruppierung man folgte, ob militante Naturschützer oder gutmenschliche Genderisten, ob völkische Populisten oder religiöse Fundamentalisten, ob Wirtschaftslobbyisten oder weltfremde Nudisten: alle reklamierten die Wahrheit für sich und knüppelten Andersdenkende nieder. Jahrzehnte lang lief es gut. Doch dann gingen den Neoliberalen die Opfer in den Drittweltländern aus und sie mussten gezwungenermaßen über sich selber herfallen. Mit vor Empörung zitterndem Zeigefinger anklagen funktioniert nur, solange sich die Opfer nicht wehren.

      Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Idiot die erste Atombombe zündete, die das brodelnde Fass zum Überlaufen brachte.

      Einmal entfacht, fraß sich das Feuer der Vernichtung durch die Länder, Regionen und schließlich durch die Kontinente. Zerstörung und Mord rafften die Menschen weg, Wahnsinn und Vernichtung liquidierten die technischen Errungenschaften. Es war Zufall, dass die Luna-Kolonie überlebte. Auf Luna wappnete man sich in höchster Eile gegen mögliche Schläge der Erde, atombomben-bestückte Raketen, Selbstmord-Shuttles. Boten des Wahnsinns, die das Feuer des Niederganges auch in die Kolonie tragen würden. Es war reines Glück, dass die Technik, die dieses ermöglicht hätte, bereits zu Beginn des Wahnsinns eliminiert wurde. Nach zwei Jahren flaute die Raserei ab. Was übrig blieb konnten die Väter in Schach halten – bis heute.

      Die Väter beschlossen, den Dingen auf der Erde ihren Lauf zu lassen. Erst fünfzig Jahre nach der Großen Säuberung wurden fernab von den Siedlungen der Überlebenden Basen aufgebaut, um Rohstoffe zu fördern und Nahrung zu produzieren.

      Die Väter hielten die Erdlinge auf Trag, provozierten Kleinkriege und Hungersnöte. Ein visionäres Meisterstück war die 'Aktion Unkraut', die Seuchen auf der Erde verbreitete. Erst als die Epidemien in die Kolonie zurückschlugen, wurde 'Aktion Unkraut' redimensioniert. Hirsch bewunderte die Tatkraft jener Vätergeneration und ihre Bereitschaft, zum Wohl der Kolonie unbequeme Entscheide kompromisslos umzusetzen. Es war die Blütezeit der Kolonie.

      Hirsch war lange genug auf dem verdammten Planeten stationiert gewesen. Lange genug um zu wissen, warum man ihn fürchten musste. Lange genug, um ihn lieben zu lernen. Vor allem aber lange genug um zu erkennen, wie umsichtig die Väter agierten. Die Auswirkungen von zügellosem Freidenken waren bis heute an den Narben der Erde sichtbar.

      Die Väter hatten das erkannt. Sie wussten, dass freie Gedanken und Ideen den Keim der Vernichtung in sich trugen und den Boden für die Saat der Unzufriedenen düngten. Und sie wussten, wie man dagegen vorging.

      Die Kolonisten wurden von frühester Kindheit an auf Gesellschaftstauglichkeit getrimmt. Die ÜKo hielt aufmerksam Ausschau nach Krebszellen von bürgerlichem Unmut und entfernte diese rigoros. Der Körper der Gesellschaft musste tüchtig und gesund bleiben.

      Telespeak, die Implantate und die räumlichen Grenzen der Kuppeln waren Erfolgsgaranten für die Staatsicherheit. Das konnte auf der Erde nicht funktionieren. Alleine die unfassbare Größe des Planeten verunmöglichte eine lückenlose Überwachung. Das Ausmaß der Erde war der Albtraum für jeden erfolgsorientierten Spitzel.

      Doch das koloniale Erfolgsmodell zeigte Abnutzungserscheinungen. Hirsch beobachtete besorgt, dass die Kolonisten mehr und mehr zu antrieblosen Hohlköpfen verkamen. Es war erschreckend, wie desinteressiert Versorgungslücken oder Fehlfunktionen der Infrastruktur hingenommen wurden. Keiner fühlte sich verantwortlich und jeder wartete, bis 'irgendwer, irgendwann, irgendwie' es richten würde. Der Preis für den handzahmen Kolonisten war zu hoch. Kreativität und Neugier verkümmerten.

      Die Kraft der Kolonie erlahmte. Das gelenkte Denken hatte hirnlose Maden hervorgebracht, die sich um sich selbst wanden und nach Futter schrien. Die Kolonie stagnierte und vermochte kaum noch, die überlebenswichtige Technik am Laufen zu halten. Die künstliche Schwerkraft unter den Kuppeln musste vor Generationen größtenteils abgeschaltet werden, weil die Energieproduktion nicht reichte. Viele der lunaren Gewächshäuser waren außer Betrieb und die lebenswichtige Transportflotte zerfiel zusehends. Zyniker behaupteten, dass die Transportschiffe zwischen dem Mond und der Erde so viele Einzelteile verloren hatten, dass