Die Endzeitpropheten. Hermann Christen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Christen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742730626
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Es war hart, die beiden vermutlich einzigen Vertreter der Kolonie zu kennen, die in der Arbeit der Väter etwas anderes als den Willen, der Kolonie selbstlos zu dienen, sahen. Vielleicht hatte Saturn nicht bei Tino, sondern bei ihm ungünstig gestanden.

      "Ihr jungen Leute seid so was von naiv. Glaubst du wirklich, dass Drohnen nur Pakete zustellen? Die haben Zusatzaufgaben. Ich sag's dir. Geheime Aufträge. Diese Dinger sind auf unsere Schwachstellen konditioniert und füttern die Datenbanken der ÜKo. Das kannst du mir glauben."

      "Vorgestern waren es noch die Implantate."

      "Die auch. Implantate und Drohnen ergänzen sich."

      Steve winkte ab und stopfte das Shirt in den Hosenbund. Tino war höchstens zehn Jahre älter und hätte leicht sein seltsam geratener, älterer Bruder sein können, den man besser zu Hause ließ, wenn man mit Freunden feierte. Doch seine Mutter hatte eine Vorliebe für jüngere Männer mit Ödipuskomplex und Hang zu geregelten Essenszeiten. Tino passte perfekt in ihr Beuteschema.

      Wenn er richtig lag, erreichte Tino bald sein Verfalldatum. Vielleicht ahnte Tino was ihm blühte und war deshalb besonders unausstehlich. Steve blickte zur Drohne hoch. Ein rotes Signal verlangte nach einem Augenscan.

      Es hieß, Augenscans machen blind. Er kannte zwar niemanden, dem das widerfahren war, doch das Gerücht geisterte seit Jahren im Telespeak herum. Genau die Art von verrückter Theorie, die von Tino stammen könnte. Allerdings, dachte Steve, musste was dran sein, wenn es im Telespeak war.

      "Mach schon, Memme", murmelte Steve und trat mit aufgerissenen Augen vor. Ein bläuliches Licht waberte über seine Augen. Das Signal an der Frontseite der Drohne wechselte zu grün. Sie schwebte heran und fuhr die Schublade aus. Steve sah einen Briefumschlag und atmete erleichtert auf. Der musste vom Professor sein. Helen würde nie einen Brief auf Papier schreiben.

      Helen: sie war lustig und anstrengend zugleich. Sie wollte in die Politik. Politik sei, dozierte sie, der kunstvolle Drahtseilakt zwischen Dienen und Lenken. Politik sei die Matrix, die der Formlosigkeit des freien Willens Halt und Perspektiven schaffe.

      Eigentlich passten sie nicht zueinander. Steve langweilte sich, wenn sie über Politik redete. Die gewählten Politiker der Kolonie besaßen ohnehin nur beratende Funktion. Es waren die Väter, die den Kurs bestimmten und die ÜKo, die ihn durchsetzte. Väter amteten auf Lebenszeit und mussten ihre Amtsführung nicht danach ausrichten, wieder gewählt zu werden. Nur so, das lernte jeder in der Schule, waren auch unbequeme Maßnahmen, die den Erhalt der Kolonie sicherten, durchführbar.

      Die Regierung sorgte für die Ausbildung, garantierte jedem einen Job und stellte nur ein paar einfache Regeln auf. Wenn man sich nicht, wie Tino, mit dem Regime anlegte, wurde man in Ruhe gelassen. 'Jeder für jeden – alle für die Kolonie' war der Grundsatz, wie die Kolonie funktionierte. Genau gleich wie bei den Musketieren vor langer Zeit.

      Nur Soziopaten schimpften gegen Regulierungen. Typen wie Tino und Becker, die nicht müde wurden, bedeutungslose Details aufzubauschen und wilde 'Fakten' darum herum zu basteln. Wären sie wenigstens Alkoholiker, wäre ihr Verhalten therapierbar gewesen. Mit ihren Verschwörungstheorien machten sich die beiden ihr Leben selber schwer.

      Steve hingeben genoss das Leben in vollen Zügen und redete sich ein, zu Hause nur nicht auszuziehen, weil er Eve nicht enttäuschen wollte. Helen wollte ihn da herausreißen, sprach von Verantwortungsgefühl und pochte auf einen Zeitvertrag. Das klang nach Entwurzelung. Zeitverträge waren Handschellen.

      "Wieder durchgefallen?", frotzelte Tino.

      Steve winkte ab. Er klaubte den Umschlag aus der Schublade und bestätigte den Empfang. Die Drohne stieg höher und sauste weg. Steve blickte ihr nach. Gegen die fleckig-gelblich schimmernde Kuppel, welche die Kolonie vor der lebensgefährlichen Umwelt des Mondes schützte, bildeten ihre Umrisse einen scharfen Kontrast.

      "Und?"

      "Was und?"

      "Durchgefallen?"

      Steve seufzte. Er hatte Tino schon tausendmal erklärt, dass er sein Bauingenieurdiplom in der Tasche hatte und jetzt in Professor Beckers Institut arbeitete.

      "Wahrscheinlich nicht", antwortete er gedankenverloren und drehte den Umschlag unschlüssig in den Händen. Papier! Reine Ressourcenverschwendung! Typisch Professor, der nicht nur geistig in der Welt vor der Großen Säuberung zu Hause war, sondern sich auch so verhielt.

      "Was will er jetzt schon wieder", murmelte Steve und drückte einen Kaffee. Er legte den Umschlag neben sich auf den Tisch und schlürfte aus der dampfenden Tasse.

      "Willst du nicht wissen, was drinsteht?"

      Tino setzte sich Steve gegenüber und knabberte einen Keks. Steve beobachtete angeekelt, wie Krümel an der feuchten Oberlippe kleben blieben. Anblicke, die anwiderten, erscheinen immer wie durch ein Mikroskop vergrößert und liefen in Zeitlupe ab.

      "Warum wurde das nicht übers Telespeak geschickt? So wichtig kann es doch nicht sein, wenn es für dich ist."

      Tino grinste breit. Steve hoffte, dass seine Mutter einen Tinoersatz heimschleppte, der einen richtigen Job hatte und nicht am Frühstückstisch rumnervte.

      "Ist von meinem Professor. Der schickt nie was über Telespeak."

      "Der weiß warum!", nickte Tino wissend. Ein Krümel löste sich, klackte auf den Tisch und fiel zu Boden.

      "Dein Professor ist clever. Der weiß genau, dass uns die Väter an der Nase herumführen und die fetten Brocken für sich abzweigen."

      "Blödsinn."

      "Meinst du? Junge, mach die Augen auf! Seit Jahren ist alles gleich, seit Generationen wurde keine neue Kuppel gebaut. Nicht mal Nummer 10 haben sie repariert."

      "Der Meteor der damals in Zehn reinkrachte, hat alles zerstört. Da gibt's nichts mehr zu reparieren."

      "Du glaubst das Märchen mit dem Meteor? Werd endlich erwachsen. Die ÜKo hat die Kuppel platt gemacht, um den Technikeraufstand nieder zu schlagen."

      "Ja, ja. Technikeraufstand. Es war ein Meteor, der vor 50 Jahren einschlug. Hast du die Videos nie gesehen?"

      Tino seufzte. Keiner wollte die Wahrheit erkennen. Er wusste aus vertrauenswürdigen Quellen, dass damals eine Revolte der Techniker rücksichtslos niedergeschlagen wurde. Seit damals war die Kolonie nicht mehr in der Lage, alle Systeme sauber zu warten.

      Sandgestrahlte Kolonisten wie Steve waren blind für solche Tatsachen. Sie verschlossen ihre Augen und glaubten wie Kleinkinder, dass da nichts ist, wo man nichts sieht. Für diese Ameisen legte das Regime die Duftspur, an der entlang sie blind durchs Leben stolperten. Wenn sich die Väter räusperten, warfen sich die Ameisen ehrfürchtig in den Mondstaub nieder.

      "Wo war ich?"

      Steve zuckte desinteressiert mit den Schultern.

      "Ich hab's wieder: der Laden stagniert. Ich glaube, die Väter verheimlichen uns, wie schlecht es wirklich um die Kolonie steht. Darum haben sie damals auch die künstliche Schwerkraft in den Kuppeln abgestellt."

      "Was für ein Quatsch! Die sind nicht abgestellt, sondern reduziert. Außerdem weiß jeder, dass es für den Körper gesünder ist, nur der Mond- und nicht der Erdschwere ausgesetzt zu sein. Das sieht man alleine schon daran, dass wir grösser sind als Erdlinge jemals waren."

      "Falsches Väter-Palaver. Wenn es so gesund wäre, wie die da oben behaupten, warum gibt es trotzdem noch 0,5 und 1G-Zonen? He? Doch irgendwann werden sie über ihre eigenen Lügen stolpern. Du wirst es noch erleben. Dein Professor voll den Durchblick."

      Steve winkte ab. Becker war ein weltfremder Phantast, der nicht müde wurde, die Altzeit zu verehren. Eine Vergangenheit, die Milliarden Menschen das Leben kostete und nicht mehr von Belang war.

      Was nutzte es zu wissen, dass vor dem Großen Rumms ein gewisser Jesus mit einem gewissen Obama die Magna Charta geschrieben hatte, Tut-Ench-Amun daraufhin mit den Tempelrittern Napoleon besiegte, weil sich dieser anschickte, die Francophonie flächendeckend einzuführen. Das lag alles weit zurück und die Kolonisten