Hermann Christen
Die Endzeitpropheten
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Inhaltsverzeichnis
Becker
Der gute, alte Al.
Becker hatte ihn nie zu den großen Endzeitpropheten gezählt. Eher zu den emsigen Mitläufern, die geschickt die Welle mitritten. Einer wie Al konnte der ersten Garde nicht das Wasser reichen. Den Vordenkern wie Buckminster Forrester, Aurelio Peccei, Norbert Wiener oder dem Ehepaar Meadows, die alle vor der Apokalypse gewarnt hatten. Heldenhaft ertrugen sie die Schmach, verspottet statt verehrt zu werden. Doch Gott war barmherzig und ließ sie allesamt vor der Großen Säuberung eines natürlichen Todes zu sterben.
Al dagegen spielte in der regionalen Liga. Zusammen mit Erich von Däniken, Jared Diamond, Ulrich Beck oder Enriquo Quarantelli. Becker nannte ihn und seine Kumpane liebevoll 'die kleinen Prediger'. Nett aber trotzdem nur schmückendes Beiwerk, welches die Größe der Großen betonte. Die Geschichte war voll mit Figuren wie den kleinen Predigern. Oder wer erinnert sich an Thaddäus, wenn man nach Jesus' Apostel gefragt wurde? Auf Typen wie Thaddäus kommt man erst, wenn man in den Unterlagen nachblättert oder ein Experte ist, der sonst nichts Gescheiteres zu tun hat.
Und doch war es Al vergönnt, das verschollene Evangelium zu offenbaren. Ihm war es vergönnt, das Tor aufzustoßen. Das Tor, das zu knacken Becker beinahe zur Verzweiflung getrieben hatte.
"Al, du alter Fuchs", murmelte Becker, fuhr mit der Zungenspitze gedankenverloren über die trockenen Lippen und betrachtete die historische Aufnahme, die Al Gore während einer Rede zeigte. Darauf hielt er das verschollene Evangelium hoch und tippte mit dem Zeigefinger der linken Hand auf den Umschlag des Buches.
Erst vor ein paar Wochen hatte Becker neues Material von der Erde erhalten, welches ein frommer Prospektor geborgen hatte. Unter hunderten von Bücherscans, Fotos und Videos verbarg sich der Beweis, dass das verschollene Evangelium kein Mythos war. Endlich hatte er den Beleg, dass der Heilige Kevin und seine Nachfolger ihre Lehre nicht auf Treibsand, sondern auf soliden Fels gebaut hatten. Das Bild bewies, dass er sein Leben und Forschen nicht an ein Phantom verschwendet hatte.
"Dem Mann gebührt ein Kardinalstitel", flüsterte Becker ergriffen.
Blieb nur der Wermutstropfen, dass der Beweis nicht aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern durch einen Zufall zu Tage trat. Doch Becker war in gönnerischer Stimmung und bereit, nebensächliche Kleinigkeiten zu ignorieren. Nur Idioten stellten die eigenen Triumphe selbst in Frage. Und das hier war ein Triumph, sein Triumph, der den Kleingeistern der Kirche, die ihm vorwarfen, Zeit zu verschwenden und nicht an der Lösung der Probleme mitzuarbeiten, den hämischen Spott im Hals stecken ließ. Das verschollene Evangelium WAR die Lösung.
Glück flutete durch die Adern seines Körpers. Er lehnte sich zurück. Alle Endzeitpropheten zitierten aus dem verschollenen Evangelium, doch es schien unfassbar wie Nebel. Eine verführerische Melodie, von der man nicht mehr wusste, wo man sie gehört hatte, aber nicht aus dem Kopf kriegte.
Heerscharen von Gelehrten und Abenteurern hatten es gesucht und waren gescheitert. Es war, als ob Gott die Beharrlichkeit und den Glauben seiner Gemeinden auf die Probe stellte. Viele zerbrachen an dieser Prüfung. Sie fielen von der Hoffnung ab und quiekten im grösser werdenden Chor der Ehrlosen mit, welcher die Existenz des Evangeliums leugnete. Sie vergaßen, dass die Botschaft des verschollenen Evangeliums die Basis für die Lehre des Heiligen Kevin, dem Retter der Kirche, war. Sie waren blind für ihre eigene, doppelzüngige Ketzerei: das verschollene Evangelium in Frage zu stellen hieß, Kevin in Frage zu stellen.
Sie hielten das verschollene Evangelium für eine Sage, einen zauberhaften, verlockend riechenden Hauch aus der Vergangenheit. Ein Märchen, um den Kindern die Ziele der Kirche zu beschreiben.
Allmählich ebbte Beckers Euphorie ab. Die Wände seines Arbeitszimmers nahmen wieder die langweilige, triste Farbe an, mit der alle Räume der lunaren Universität gestrichen waren. Die Farbe des Schöpferkraftzerfalls, die Farbe der bürokratischen Strangulation, welcher