Nicht auch noch der Doktor. Müde hob Margarethe den Kopf. Schon diese kleine Bewegung erschien ihr wie eine unmenschliche Anstrengung. Ein höfliches Lächeln konnte sie sich nicht auch noch abringen.
Er war allein. Das war neu. Sonst begleitete ihn immer ihre Mutter, wenn er seine Visite machte. Es war ihr gleich.
Sie hörte nicht auf seine Worte der Begrüßung, antwortete nicht auf die Frage nach ihrem werten Befinden. Was sollte das alles. Ein Tag war wie der andere – eine endlose graue Qual.
Doktor Schneider bat sie ins Zimmer, war ihr beim Aufstehen behilflich, führte sie zu einem Sessel und schloss die Balkontür. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. Wie üblich griff er nach ihrer Hand und fühlte ihren Puls, beobachtete dabei den Zeiger seiner Taschenuhr. Sie ließ es über sich ergehen. Was für ein Affenzirkus. Als ob ihr mit Pulsfühlen zu helfen wäre. Als ob ihr überhaupt zu helfen wäre. Als ob sie es verdiente, dass man ihr half.
Wenn es nur endlich ein Ende hätte. Ihr Blick suchte die Balkontür. Zweiter Stock. Unten die Blumenbeete. Nein, das war nicht hoch genug. Aber aus der Turmstube oben, über der Eingangstreppe – die steinernen Stufen …
»Manchmal hilft es, wenn man sich etwas von der Seele spricht«, sagte Doktor Schneider. Arztstimme. Ruhig, sicher, professionell mitfühlend wie immer. Aber diese Worte! Es war, als drängen sie durch einen Schleier mitten in ihr Herz.
Sie sah zu ihm. »Woher wissen Sie …«, fragte sie.
Er erwiderte ihren Blick ohne eine Spur von einem Lächeln. »Ich habe Augen«, antwortete er. »Etwas bedrückt Sie. Etwas bedrückt Sie so stark, dass Sie nicht wieder gesund werden, obwohl der Infekt längst überwunden ist.«
Sie schwieg.
»Ich habe einen Eid ablegt«, fuhr er fort. »Nichts, was Sie mir sagen werden, wird irgendjemand anderem zu Ohren kommen. Nichts.«
Sie schwieg.
»Oder wenn es Ihnen lieber ist, sich Ihrem Pastor anzuvertrauen …«, fuhr er fort.
Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie«, begann sie zögernd. Wie fremd ihre Stimme klang, farblos und blechern, schleppend, von weit her. »Haben Sie auch arme Patienten? Arbeiterinnen? Leute aus dem Hinterhof?«
»Ja. Seit einiger Zeit arbeite ich auch als Kassenarzt.«
Schweigen. Tastend begann sie endlich, jedes Wort mit unendlicher Mühe formend: »Diese Kellerwohnungen, nass, vermodert, stinkend – wenn ein Säugling in so einer Wohnung lebt …« Sie konnte nicht weitersprechen. Schließlich brachte sie beinahe tonlos hervor: »Wird er – sterben?«
Der Arzt sagte nichts. Seine Augen ruhten forschend auf ihr.
Da plötzlich überstürzten sich ihre Worte: »Sie müssen mir die Wahrheit sagen, Herr Doktor, als Arzt, als Wissenschaftler. Sie sind doch verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, nicht wahr?« Verzweifelt starrte sie ihn an.
Er rieb sich den Nasenrücken. »Wozu ich verpflichtet bin, wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber ich werde Ihnen die Wahrheit sagen – wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir dafür erklären, was Sie an dieser Frage so belastet.«
Sie nickte stumm.
»Nun denn. In den schlimmsten Wohnquartieren von Berlin beträgt die Säuglingssterblichkeit rund fünfundvierzig Prozent. In den besten rund zehn Prozent. Die Zahlen sprechen für sich, die Interpretation ist schwierig. Da spielt neben vielen Faktoren wie der Gesundheit der Mutter, der Hygiene, der Versorgung und der Ernährung mit Sicherheit auch die Wohnqualität eine Rolle, aber das ist wissenschaftlich schwer zu beziffern. Ich will Ihnen jetzt nicht mit den konträren Ansichten von Pettenkofer und Koch kommen, Sie mit medizinischen Streitfragen verschonen. Also, summa summarum – die Chancen eines Säuglings, das erste Lebensjahr in so einem Kellerloch zu überleben, sind in etwa halbe-halbe.«
»Und«, vergebens versuchte sie, durch Schlucken ihren Gaumen zu befeuchten, ihr Hals war so trocken, dass sie kaum einen Ton herausbekam, »wenn er nun schon schwer geschwächt ist, so sehr, dass er gar nicht mehr schreit, nur noch wimmert, und man ihn dann da rausholt, ärztliche Versorgung, eine gute Wohnung, gute Milch …« Sie verstummte.
Doktor Schneider legte ihr die Hand auf den Arm. »Sie waren in so einer Wohnung?«, fragte er leise. »Im Auftrag des Wohltätigkeitsvereins? Sie haben einen solchen Säugling gesehen? Und er ist gestorben?«
Sie nickte. »Ich habe es den Damen des Wohltätigkeitsvereins gesagt«, flüsterte sie, »ich habe es immer wieder gesagt, aber es war kein Geld für die Nähmaschine da, Anna Brettschneider wollte eine Nähmaschine, damit sie Geld verdienen könnte, aber …« Sie brach ab. Und dann schrie es aus ihr: »Ich habe nichts getan! Irgendwann habe ich es einfach vergessen! Erst als Ihre kleine Tochter, als sie im Tiergarten ihren Mantel verschenkt hat, ist es mir bewusst geworden, da habe ich meinen Ring verkauft und bin wieder hin und habe das Geld gebracht, aber das Kind, das Kind …« Sie weinte.
»… war tot«, sagte Doktor Schneider still. »Ja. So ist das.«
Sie schwiegen beide. Und in diesem Schweigen änderte sich etwas, langsam, unmerklich. Auf einmal konnte sie wieder freier atmen.
»Hätten Sie den Säugling retten können, wenn ich Sie sofort geholt hätte? Und wenn ich für eine anständige Wohnung und Ernährung gesorgt hätte?«
Er hob die Schultern. »Das kann ich nicht beantworten, Baronesse, weil ich den Säugling nicht gesehen habe. Aber ich vermute, ich hätte es nicht gekonnt – und Sie auch nicht.«
Sie sah ihn an, keinen Blick mehr wandte sie von seinem Gesicht. Eine unendliche Müdigkeit drückte sich darin aus, als er fortfuhr: »Meine Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Oft sitze ich am Bett eines sterbenden Kindes und kann nichts tun. Oft kann ich nur noch den Tod feststellen. Oft ist nicht mehr wettzumachen, was den Verfall zum Tode hin eingeleitet hat. Manches Mal ist es mir schon so gegangen, wie es Ihnen jetzt geht: dass ich mich gefragt habe, ob ich etwas unterlassen habe, ob ich etwas hätte tun können, um das Kind doch noch zu retten.«
Er auch? O Gott. Und sie hatte gedacht, die Einzige zu sein.
»Oft aber, unendlich oft, spüre ich einen hilflosen Zorn«, sagte Doktor Schneider. »Denn es sind nicht nur die einzelnen Ärzte, die versagen, die einzelnen Mütter, die ihre Kinder sträflich vernachlässigen, sie tagelang im Schmutz liegen lassen, weil sie keine Zeit und keine Kraft haben, sie zu versorgen – es sind vor allem die Verhältnisse. Mit der Muttermilch trinken die Kleinen das Gift, dem die Mutter in der Fabrik ausgesetzt ist, den Tabak im Blut der Zigarrenfabrikarbeiterin, das Blei im Blut der Arbeiterin in der Spiegelfabrikation. Und wenn durch Hunger und Überlastung der Mutter der Milchstrom versiegt oder die Mutter nicht stillen kann, weil sie außer Haus arbeiten muss, drohen durch die mangelhafte und unhygienische Flaschennahrung die Gefahren der tödlichen Säuglingsdiarrhö. Ach, tausend Beispiele könnte ich aufzählen! Tausende Kinder sterben Tag für Tag in Deutschland, ohne dass sie sterben müssten!«
»Aber dieses eine«, sagte Margarethe leise.
Er nickte. »Ja. Dieses eine. Ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß. Hatte es denn noch Geschwister?«
Margarethe lächelte. »Ja, die hatte es. Und für die habe ich gesorgt. Ich habe Anna Brettschneider das Geld für eine Nähmaschine und für eine bessere Wohnung gegeben.«
»Das ist gut, Baronesse.« Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Ich glaube, Sie werden rasch wieder gesund werden müssen, um bei dieser Anna Brettschneider nach dem Rechten zu sehen.«
Das erste Mal war sie heute nach ihrer Erkrankung wieder unter Menschen. Emma hatte ihr ein Kleid enger nähen müssen, damit sie sich überhaupt sehen lassen konnte. Sie war sehr schmal geworden und sehr schwach. Stundenlang aufrecht auf einem Stuhl sitzen zu müssen, bedeutete eine schier unerträgliche Anstrengung. Aber diesen Abend durfte sie sich nicht entgehen lassen. Ihre Mutter hatte Frau Sieglinde Höhl eingeladen, vor den Damen des Wohltätigkeitsvereins