Bei einem Juwelier hätte sie wahrscheinlich mehr dafür bekommen. Aber die Gefahr, erkannt zu werden, wäre größer gewesen. Außerdem fand sie ja vielleicht noch eine Möglichkeit, das Geld anderweitig aufzutreiben und den Leihschein, den sie nun in ihrem Täschchen trug, wieder gegen das Schmuckstück einzutauschen. Aus Gründen der Pietät wäre es ihr lieber gewesen, an dem Ring selbst hatte sie nicht das geringste Interesse – sie hatte ihn, wie den übrigen veralteten Schmuck ihrer Großtante, kein einziges Mal getragen. Freilich wusste sie nicht, wie sie an das Geld kommen sollte, ihn wieder auszulösen.
Ihren Vater wollte sie darum nicht bitten. Er hatte ihr monatlich fünfzig Mark zur freien Verfügung ausgesetzt, die ihr mit Regelmäßigkeit zwischen den Fingern zerrannen, ohne dass sie recht wusste, wofür sie das Geld ausgab. Er kam ja für all ihre laufenden Ausgaben und ihre Kleidung auf. Für die Erlangung eines größeren freien Budgets freilich stieß sie bei ihm auf taube Ohren. Frauen verstehen nichts von Vermehrung von Geld, war einer seiner Lieblingssätze, was ein Mann mit dem Heuwagen ins Haus karrt, trägt eine Frau in der Schürze wieder hinaus. Nicht umsonst hat es der Gesetzgeber so geregelt, dass der Mann in finanziellen Dingen der Vormund des Weibes ist. Wenn du einmal heiratest, Margarethe, bekommst du eine Mitgift, die sich sehen lassen kann und dir unter der geschickten Verwaltung eines umsichtigen Gatten für immer ein absolut sorgenfreies und standesgemäßes Leben garantiert. Solange du zu Hause lebst, brauchst du kein eigenes Geld. Ich verwalte und vermehre das Geld für dich, so wie ich das Geld deiner Mutter verwalte und vermehre – und wie es später einmal dein Mann für dich tun wird.
Die Mutter war aus reicherem Haus gewesen als der Vater, der nur ein reichlich verschuldetes märkisches Gut zum Erbe gehabt hatte: Von der Mitgift, die sie in die Ehe gebracht hatte, wurde in der Verwandtschaft noch immer mit bedeutungsvollen Blicken in Andeutungen gesprochen. Die Mitgift sei das Kapital gewesen, mit dem Baron von Zug durch geschickte Spekulation mit Eisenbahnaktien sein beträchtliches Vermögen erzielt hatte – nomen est omen.
Seltsam war sie, diese Selbstverständlichkeit, mit der man sagte: sein Vermögen. Da es doch eigentlich das der Mutter war. Diese aber hatte keinen Zugriff darauf. Sowohl für die Haushaltsführung als auch für jede aus dem Rahmen fallende Ausgabe oder Anschaffung war die Mutter darauf angewiesen, dass der Vater ihr die Mittel dafür gab. Sicher, er war großzügig. Und dennoch.
Nein. Wie zur Bestätigung schüttelte Margarethe den Kopf. Sie würde ihren Vater nicht um die zweihundertfünfundfünfzig Mark bitten, um den Ring wieder auszulösen. Wobei sie ja eigentlich nur hundertfünfunddreißig Mark brauchte, so viel kostete eine Singer-Nähmaschine, die zum Nähen von Damenkonfektion geeignet war, sie hatte sich danach erkundigt. Aber sie spürte, dass sie von dem Geld, das sie für den Ring erlöst hatte, nichts zurückbehalten wollte.
Wenn ein kleines Mädchen seinen guten Mantel verschenken konnte und dafür in Kauf nahm, zu frieren und womöglich bestraft zu werden – warum sollte sie dann nicht einen Ring verschenken, an dem niemandem etwas lag?
Diese Lotte. Margarethe lächelte vor sich hin. Eine Tochter wie die hätte sie auch gerne einmal. Alle Welt legte Wert auf einen Sohn. Sie aber stellte es sich schön vor, eine Tochter zu haben. Als könne man das Leben noch einmal neu beginnen.
Was für alberne Gedanken!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Außerdem stand ein Kind ja nun wirklich nicht zur Debatte, da sie ihren einzigen ernstzunehmenden Verehrer zurückgewiesen hatte. Sie sollte sich lieber für das rüsten, was ihr bevorstand.
Wieder in diesen stinkenden Keller hinabsteigen zu müssen …
Und was, wenn Anna Brettschneider dort gar nicht mehr wohnte?
Das letzte Stück des Weges ging sie zu Fuß, schneller, als es sich für eine Dame geziemte. Aber die wollte sie sowieso nicht herauskehren, selbst auf die Begleitung ihres Dienstmädchens hatte sie leichtsinnigerweise verzichtet. Wenn die Mutter wüsste, dass sie hier ganz allein durch einen der roten Berliner Kieze lief!
Sie erreichte die Mietskaserne, durchquerte die Toreinfahrt, den Garten, den zweiten Hof, den dritten. Von der streitbaren kleinen Frau und dem jungen Mädchen, die ihr hier beim letzten Mal begegnet waren, war nichts zu sehen. Dann dieser bedrückend enge, dunkle Hof. Die Kellertreppe mit ihrem unfassbaren Gestank. Der düstere Kellerflur. Die Türen. War es die dritte oder die vierte gewesen?
Beinahe blind klopfte Margarethe – nur schnell, schnell es hinter sich bringen, wieder an die Luft zurückkehren dürfen – und stieß die Tür auf. Fast das gleiche Bild wie beim letzten Mal, nur das Bett war verschwunden und auf dem Herd kochte keine Wäsche. Die Frau und die Kinder erschienen ihr noch hohlwangiger, als sie sie in Erinnerung hatte.
Anna Brettschneider stieß einen erstickten Schrei aus, stürzte auf sie zu, griff nach ihrer behandschuhten Rechten, bedeckte sie mit Küssen. »Ich hab es ja gewusst«, stammelte sie, »das Wunder, wenn man nur fest daran glaubt, und Sie hatten es mir ja versprochen, eine so hochwohlgeborene Dame hält doch ihr Wort, hab ich immer gesagt, wenn die anderen gemeint haben, Sie kommen nicht mehr …« Ihre Stimme endete in einem Schluchzen.
Margarethe stand wie erstarrt. »Beruhigen Sie sich doch«, murmelte sie hilflos, »es gab einige Schwierigkeiten, aber jetzt habe ich das Geld für Ihre Nähmaschine und noch hundertzwanzig Mark dazu.« Damit zog sie ihre Hand aus der Umklammerung, holte ihren Geldbeutel hervor und legte die Scheine auf den Tisch. »Zweihundertfünfundfünfzig Mark«, erklärte sie.
Die Frau starrte sie an. »Gott vergelte es Ihnen!«, wiederholte sie ein ums andere Mal. »Ihnen und den anderen Damen vom Wohltätigkeitsverein. Gott vergelte es Ihnen allen! Zweihundertfünfundfünfzig. So ein unfassbarer Reichtum. Zweihundertfünfundfünfzig. Jetzt sind wir gerettet!« Sie weinte.
»Aber Sie müssen aus diesem Keller heraus in eine richtige Wohnung«, erklärte Margarethe rasch. »So ein nasser Keller ist ungesund für die Kinder, müssen Sie wissen. Davon werden sie krank.«
Anna Brettschneider nickte stumpf. »Mein Jüngstes ist schon gestorben. Nicht einmal einen Sarg hab ich ihm kaufen können, dem armen Wurm. Aber auf den Friedhof bin ich mit, auch wenn ich dafür die ganze Nacht Tüten kleben musste. Man will es doch wenigstens mit Anstand beerdigen. Dort, wo es jetzt ist, da ist es besser.« Mit dem Schürzenzipfel wischte sie sich die Augen.
Ein Schwindel erfasste Margarethe. So war sie zu spät gekommen. Wenn sie nicht etliche Wochen hätte verstreichen lassen, wäre dann das Kind noch zu retten gewesen? Sie rang nach Atem, nach einer Antwort. »Mein Beileid«, flüsterte sie schwach. »Ich, ich muss dann wieder …« Sie floh.
Den finsteren Kellergang entlang, die schmierige Stiege hinauf, raus, nur raus. Blind vor Tränen rannte sie durch den Hof, durch den Durchlass, über den nächsten Hof, durch die Tordurchfahrt zum zweiten Hof.
Dunkel war es hier, sie achtete nicht darauf, ob ihr jemand entgegenkam, sie wollte nur weg.
Ein Kind. Sie hatte ein kleines Kind auf dem Gewissen.
Den Mann, der um die Ecke kam, bemerkte sie erst, als es zu spät war. Um nicht mit ihm zusammenzustoßen, wollte sie zur Seite springen, strauchelte. Beinahe wäre sie gestürzt. Er fing sie, hielt sie am Arm.
Sie schluchzte laut auf. Er führte sie zur Laube im ersten Hof, drückte sie dort mit sanfter Bestimmtheit auf die Bank, ließ sich neben ihr nieder. »Soll ich Ihnen eine Kutsche rufen, gnädiges Fräulein?«, fragte er. »Oder kann ich Ihnen anderweitig behilflich sein?« Beim Klang seiner Stimme blickte sie auf. Johann Nietnagel.
»Oh! Baronesse von Zug!«, rief er überrascht. »Entschuldigen Sie bitte, ich hatte Sie gar nicht erkannt! Was ist Ihnen zugestoßen? Was führt Sie denn hierher in den Hinterhof?«
»Anna Brettschneider«, stammelte sie, »wenn ich mich früher um sie gekümmert hätte, würde ihr Kind noch leben, zu spät, ich kam zu spät, ich wusste doch nicht …« Weinend lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Er legte die Hand tröstend auf ihren Rücken. So saßen sie. Und es schien das einzig Mögliche