Es war in Berlin. Gabriele Beyerlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Beyerlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738018554
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nicht mehr an die Frau gedacht? Völlig entfallen war ihr diese Geschichte. Nun auf einmal war das Bild der Kellerwohnung wieder vor ihrem inneren Auge. Beunruhigt versuchte sie es zur Seite zu schieben. Aber nun, einmal wach geworden, ließ es sich nicht so leicht wieder verdrängen.

      Würde Anna Brettschneider im Sommer überhaupt noch eine wenn auch noch so elende Wohnung haben, in der sie eine Nähmaschine aufstellen konnte? Oder würde sie längst mit ihren Kindern bettelnd auf der Straße stehen und im Obdachlosenasyl nächtigen?

      Nein, sie wollte davon nichts mehr wissen. Sie hatte getan, was sie hatte tun können. Ihre Mutter hatte recht: Es gab so viel Not, man konnte nicht allen helfen. Und dass sie keinen Absagebrief geschrieben hatte, war das nicht ein Akt der Barmherzigkeit gewesen? Nicht auch noch die Hoffnung nehmen …

      Vorbei an den mit rotkarierten Tüchern gedeckten Tischen der Spießbürger, die ihren mitgebrachten Kuchen auspackten und dennoch verzweifelt auf Vornehmheit zu achten bemüht waren, ging sie mit den Eltern zur Allee hinunter.

      Sie tauchten in den Strom der Flanierenden ein. Grüppchen kichernder Backfische, die kurze Blicke zu den Gymnasiasten oder gar den jungen Fähnrichs warfen und dann wieder die errötenden Köpfe zusammensteckten, verlegene junge Damen, die von ihren Eltern der Gesellschaft vorgeführt wurden und ihre Züchtigkeit wie eine Auszeichnung vor sich her trugen, ältliche Mädchen in Begleitung ihrer vertrockneten Mutter, die ihre verzweifelte Hoffnung, doch noch einen Bewerber zu finden, selbst hinter ihrem Schleier kaum mehr verbergen konnten, Ausschau haltende Leutnants und Assessoren, Privatbeamte und Junker, Studenten und junge Selbstständige – war dies alles hier nicht ein einziger Heiratsmarkt? Und mittendrin sie, die sich entschieden hatte, dies unwürdige Spiel nicht mitzuspielen, sich nicht zu vermarkten. Sie würde warten, bis wirklich der Richtige kam, ganz von selbst. Und wenn er nicht kam? So oder so – sie würde sich treu bleiben. Auf einmal war sie stolz auf sich.

      Man traf auf das Ehepaar Dr. Schneider und beschloss, noch ein Stück gemeinsam durch den angrenzenden Tiergarten zu flanieren. Der Vater verwickelte den Hausarzt sofort in eine Konsultation wegen seines Sodbrennens, die Mutter begann mit der Gattin ein Gespräch über Literatur, an dem sich Margarethe höflich beteiligte. Die Mutter brachte die Rede auf Zola und seine sozialen Romane.

      Da, wie ein Schlaglicht, war das Bild da, das Margarethe in den vergangenen Wochen immer wieder einmal heimsuchte: Johann Nietnagel im schäbigen Frack. Seine ernsten Augen und sein spöttisches Lächeln, seine Stimme: Ich weiß, ich habe eine Vorlesung über die französischen Naturalisten bei Professor Unschlicht gehört.

      Wie jedes Mal verscheuchte sie die Erinnerung. Sie würde diesen arroganten Dichter nie wiedersehen und sie wollte es auch nicht. Die Naturalisten mit ihrer schonungslosen Schilderung der haarsträubendsten Details waren ihr sowieso zuwider. Wahrscheinlich arbeitete er gerade an einem völlig unerträglichen Roman über die Folgen der Trunksucht oder die »Ausbeutung« der Arbeiter, der im letzten Hinterhof in einer elenden Kellerwohnung spielte.

      Und schon waren ihre Gedanken wieder bei Anna Brettschneider.

      Wie ein Ohrwurm, dachte sie. Hat man einmal damit begonnen, wird man ihn so schnell nicht wieder los.

      Das Kindermädchen der Familie Schneider wartete mit den drei kleinen Kindern vor der indischen Pracht der Elefantenpagode. Die drei, allen voran die Älteste – Lotte, ein sechsjähriges Mädchen –, wollten eifrig von ihrem Ritt auf dem Elefanten erzählen, doch ihr Vater verwehrte ihnen, sich so in die Unterhaltung der Erwachsenen zu drängen. Aus Mitleid mit dem offensichtlich enttäuschten Kind begann Margarethe ein Gespräch mit der Kleinen. Süß sah es aus, dieses Mädchen mit seinem blauen Matrosenmäntelchen, das es geöffnet über dem weißen Stickereikleidchen trug. Und was hatte es für ein offenes, kluges Gesichtchen. Begeistert erzählte das Kind nun ihr, was es den Eltern nicht hatte erzählen dürfen. Neben ihr hergehend, schob es zutraulich die Hand in ihre Rechte. Da berührte es Margarethe wie ein plötzlicher Schmerz: Wie schön war das, so eine Kinderhand in ihrer. Sollte sie das womöglich nie mit einem eigenen Kind erleben?

      Draußen im Tiergarten jenseits der Lichtensteinbrücke erhielten die Kinder Erlaubnis, sich zu entfernen. Die beiden Großen, Lotte und ihr jüngerer Bruder Wilhelm, trieben um die Wette ihre Reifen, liefen immer schneller. Dann waren sie den Blicken entschwunden. Das Kindermädchen, aufgehalten durch den langsam auf seinem Steckenpferd mehr hoppelnden als reitenden Jüngsten, folgte ihnen mit großem Abstand.

      Die Gruppe setzte sich auf eine weiß gestrichene Parkbank. Frau Doktor Schneider brachte das Gespräch auf die Planung einer gemeinschaftlichen Landpartie, der ersten des Jahres. Lange ging es um die Wahl eines passenden Ziels. Dann fragte Frau Doktor Schneider in die Runde: »Wen wollen wir noch dazu einladen? Vielleicht General von Klaasen mit der Frau Gemahlin und dem Hauptmann?« Ein kurzer, nur scheinbar unverfänglicher Blick streifte Margarethe.

      »Warum nicht«, erwiderte sie möglichst gleichmütig. Wusste die Arztfrau schon von der Änderung in ihrem Verhältnis zum Hauptmann? Wie auch immer – diese geborene Baronesse von Zietowitz würde nicht erleben, dass sich eine Baronesse von Zug eine Blöße gab!

      Das Dienstmädchen kehrte mit den drei Kindern zurück, in offensichtlicher Verlegenheit. »Es tut mir leid, gnä' Frau«, begann sie schüchtern, »ich konnt ja nicht so schnell laufen mit dem kleinen Richard, und die Kinder waren so weit voraus, und als ich hinterherkam, da war es schon zu spät, das fremde kleine Mädchen war schon weggelaufen, dem Lotte ihren Mantel …«

      »Lotte, was hast du mit deinem Mantel gemacht?«, fragte Frau Doktor Schneider streng.

      Margarethe schaute das Mädchen an, das in seinem viel zu leichten Baumwollkleidchen unübersehbar fror. Eine steile Falte hatte sich auf der Stirn des Kindes gebildet. Mut, Trotz und heimliche Angst mischten sich auf dem jungen Gesicht. »Ich hab ihn Immy geschenkt«, antwortete Lotte, »einem armen Kind. Minna sagt, das hätte ich nicht tun dürfen und ihr werdet böse sein. Aber ich musste doch, weil Immy so geweint hat, sie hatte ihr Kleid zerrissen und sie hat gesagt, ihr Vater schlägt sie tot, wenn sie so nach Hause kommt, weil es doch ihr einziges Kleid ist. Und Papa hat doch auch gesagt, es gibt ganz arme Kinder, die haben überhaupt nur ein einziges Kleid, und wenn das gewaschen wird, dann müssen sie im Bett bleiben, bis es wieder trocken ist. Und wenn Immy jetzt meinen Mantel hat, dann kann sie wenigstens den anziehen, und vielleicht schlägt ihr Papa sie dann nicht tot.«

      »Aber du kannst doch nicht einfach ohne Erlaubnis deinen neuen Mantel verschenken!«, erregte sich die Frau Doktor. »Das gute Stück!«

      »Sankt Martin hat das doch auch gemacht«, sagte Lotte. Ihre Stimme zitterte, als kämpfe sie mit den Tränen. »Und ich hatte ja keine Schere und konnte meinen Mantel nicht durchteilen. Aber ein halber Mantel hätte ja auch nichts genützt, da wäre Immys Vater doch noch mehr böse geworden. Papa«, hilfeflehend sah sie ihren Vater an, »meinst du, er schlägt Immy jetzt nicht tot?«

      »Nein, das tut er ganz bestimmt nicht«, sagte Herr Dr. Schneider und strich dem Kind durch die Haare.

      »Trotzdem«, beharrte die Frau Doktor, »du musst um Erlaubnis fragen, Lotte, wenn du etwas von deinen Sachen verschenken willst. Du darfst nicht jedem Kind einfach etwas geben!«

      »Ja, Mama«, sagte Lotte leise. »Aber es war ja nicht jedes. Es war Immy.«

      Mein Gott, dachte Margarethe. Anna Brettschneider. Da muss erst so ein kleines Mädchen kommen und mir die Augen öffnen!

      Erst in der Pferdestraßenbahn schlug Margarethe den dichten Schleier zurück, hinter dem sie sich bei ihrem Besuch im Leihhaus verborgen hatte. Nicht vorzustellen, wenn ein Mitglied der Gesellschaft sie gesehen und erkannt hätte, während sie das Leihhaus betrat oder verließ! Sie hatte sich für diesen Besuch eigens ihre älteste und unscheinbarste Kleidung angelegt. Dennoch war sie sich auffällig und mehr als deplatziert vorgekommen.

      Der Bedienstete im Leihhaus hatte geschäftsmäßige Diskretion zur Schau gestellt. Der kurze Blick, mit dem er ihren Schleier zu durchdringen versucht hatte, als er überrascht von dem Fingerring aufgesehen hatte, war ihr dennoch aufgefallen. Er hatte sich eine Lupe ins Auge geklemmt, um den