»Wieso«, meinte Clara rasch – sie wollte nicht, dass er so über sich redete –, »das ist doch immer so, bei uns auch. Die Männer bekommen halt mehr und besser zu essen, Fleisch vor allem, das geht doch gar nicht anders, wenn's nicht für alle reicht. Und welcher Mann bügelt schon selbst seine Hemden? Dass ich nicht lache!«
»Genau!« Heinrich knuffte sie freundschaftlich in die Seite. »Du sagst es, Mädchen!« Er grinste breit.
Jenny schien etwas einwerfen zu wollen, doch Johann sprach bereits weiter: »Ja, so ist es jetzt. Aber wie es einmal in einer gerechteren Gesellschaft der Zukunft sein wird, wenn der Sozialismus gesiegt hat, das wollen wir mal dahingestellt sein lassen, das führt jetzt zu weit. Ich wollte ja von Lokomotivführer Schreiber erzählen und vor allem von Jenny.«
Er lehnte sich behaglich zurück und lachte Jenny an. Wie schön dieses Lachen war, wie fröhlich und frei …
Clara spürte einen kurzen Stich der Eifersucht, dass es nicht ihr galt. Doch schon wandte er sich wieder ihr zu: »Nie wäre mir in den Sinn gekommen, mit dem guten Herrn Schreiber oder gar seiner Gattin ein politisches Gespräch zu führen. Guten Morgen, Guten Abend, Schönes Wetter heute, Reinigen Sie bitte den Anzug – viel weiter führte unsere Konversation nicht. Und niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass dieser biedere kleine Mann ein heimlicher Sozialist sein könnte. Es war ja noch unter dem Sozialistengesetz, da hat man das tunlichst nicht an die große Glocke gehängt, und bei der Bahn wäre er doch sofort rausgeschmissen worden, wenn das rausgekommen wäre. Doch dann eines Tages – ich saß in meiner Bude und hatte bereits kurz zuvor die Türklingel gehört und eine flüsternde Mädchenstimme draußen im Flur, die sehr heimlich tat – da war plötzlich ein Sturmgeläut an der Wohnungstür und ein rabiates Klopfen und Rufen: »Sofort öffnen! Polizei!«
»Genau«, ergriff Jenny das Wort. »Du musst nämlich wissen, Clara, damals hab ich heimlich den Sozialdemokrat ausgeteilt, der war ja verboten, auf immer neuen Schleichwegen wurde die Zeitung aus der Schweiz nach Deutschland geschmuggelt und hier von vielen aktiven Genossen und Genossinnen im Untergrund verteilt. Wenn man dabei erwischt wurde, dass man die rote Feldpost unter die Leute brachte, konnte man glatt für einen Monat ins Gefängnis wandern. Na ja, ich habe mir immer neue Tricks ausgedacht. In dem Sommer war ich drauf verfallen, im Wald Brombeeren zu sammeln und die dann von Haus zu Haus zu verkaufen. Natürlich bin ich nur zu den Abnehmern des Sozialdemokrat gegangen, und unten in meinem Korb, unter einem Tuch versteckt, lagen die Hefte.«
»Ja, meine rote Jenny, das war eine ganz Mutige«, unterbrach Heinrich stolz und legte mit besitzergreifender Geste seinen Arm um seine Frau. »Aber was sag ich war. Sie ist es ja immer noch!«
»Clara auch«, erwiderte Jenny. Und dann zu Johann gewandt: »Clara versteckt nämlich die Beitragshefte vom Frauenagitationskomitee. Ohne Clara wäre Gerda jetzt vermutlich auch im Gefängnis.«
»Wirklich?« Johann sah sie freudig überrascht an. »Dann sind wir also Kampfgefährten? Respekt, Respekt, Fräulein Clara! Jetzt ist es mir eine doppelte Ehre, mit Ihnen tanzen zu dürfen.«
Respekt, Respekt – das hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Und nun er. Plötzlich war ihr, als sei sie ihm dadurch ein Stück weit ebenbürtig geworden, obwohl er natürlich unerreichbar weit über ihr stand: ein studierter Herr, ein Dichter. Zum Glück wusste er nicht, wie oft sie schon bereut hatte, diese Hefte an sich genommen und unter der Diele verborgen zu haben.
»Aber irgendwie bin ich wohl doch mal aufgefallen mit meinen Brombeeren«, nahm Jenny ihren Faden wieder auf. »Ich wurde offensichtlich beobachtet und verfolgt. Nun sollte ich also auf frischer Tat ertappt und verhaftet werden. Da stand ich mit meinen verbotenen Blättern im Flur bei Frau Schreiber und draußen hämmerte die Polizei an die Tür. Wär da nicht Johann gewesen …«
Er grinste. »Es war die reine Neugier, die mich in den Flur trieb. Und als ich die beiden da so stehen sah, den Stapel Blätter in der Hand und starr vor Schreck, da habe ich gar nicht mehr nachgedacht. Ich habe ihnen die Zeitungen einfach aus der Hand genommen und in meine Studentenmappe gesteckt, Frau Schreiber kam noch mit einem roten Liederbuch angerannt und schob mir das auch noch unter, und schon bin ich hinten zur Küchentür raus und die Hintertreppe runter. Unten stand ein Schutzmann und bewachte den Ausgang – den heißen Schreck spüre ich heute noch in den Gliedern –, aber er ließ mich unbehelligt durch. Er hatte wohl nicht Befehl, einen Studenten zu filzen. Den ganzen Tag trug ich jedenfalls diese roten Brandschriften in meiner Mappe in der Universität spazieren. Am Abend brachte ich sie wieder zurück – inzwischen war die Wohnung durchsucht worden, auch mein Zimmer hatte die Polizei durchwühlt, aber sie hatten nichts gefunden.«
»Nur Brombeeren!«, warf Jenny ein und lachte.
»Ich aber setzte mich noch am gleichen Abend hin und begann den Sozialdemokrat zu lesen«, fuhr Johann unbeirrt fort. »Etwas, wofür ein junges Mädchen so viel riskierte, musste ja wertvoll sein, nicht wahr? Und was soll ich sagen – es ließ mich nicht mehr los. Es öffnete mir die Augen. Auf einmal konnte ich an dem sozialen Elend, der Armut und der ganzen Ungerechtigkeit nicht mehr vorbeisehen. Es war der Anfang meiner Bekehrung.«
»Ganz schön mutig«, meinte Clara und schaute ihn an.
»Nicht mutiger, als du es bist, Clara«, sagte er warm und erwiderte den Blick.
Er hob ihr sein Bierglas entgegen. »Ich heiße Johann. Machst du mir die Freude und sagst du zu mir?«
»Ja, Johann.« Sie spürte selbst, dass sie rot übergossen war und es machte ihr nichts aus.
Die Musik setzte wieder ein. Er verbeugte sich vor ihr und führte sie zur Tanzfläche. Sie tanzten eine Polka und einen Walzer und noch einen Tanz, von dem sie keine Ahnung hatte, wie er hieß, aber was machte das, sie berührte den Boden ja kaum, die Füße bewegten sich von selbst, es war, als ob sie schwebe, getragen von seinem Arm und mehr noch von seinem Blick.
»Du süßes tapferes Mädchen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Die Jeanne d'Arc der Hinterhöfe. So kühn und so hübsch.«
Sie wusste nicht, was eine Jeanne d'Arc war, aber das war ihr gleich. Es war ein Kompliment, nur das war wichtig, ein Kompliment, das von Herzen kam.
4
Ein heikleres Ziel hätte die Mutter am ersten schönen Frühlingssonntag des Jahres nicht wählen können als den Zoologischen Garten. Die ganze Gesellschaft des Westens gab sich hier ein Stelldichein – und auch die Gardeoffiziere fehlten nicht. Es hätte kaum einen Ort geben können, an dem sie mit größerer Wahrscheinlichkeit Hauptmann von Klaasen über den Weg laufen könnte als hier. Doch die Mutter war, wie immer in allen gesellschaftlichen Dingen, unerbittlich gewesen. Zu Frühlingsanfang ließ man sich im Zoologischen blicken, und damit fertig.
Auch die Fadenscheinigkeit von Margarethes Entschuldigung, sie fühle sich nicht recht wohl und würde lieber zu Hause bleiben, hatte die Mutter durchschaut. »Du kannst dich nicht wie Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel verschanzen, nur weil du einem vielversprechenden Freier, mit dem jeder dich schon so gut wie verlobt glaubte, einen Korb gegeben hast«, war die Antwort der Mutter gewesen. »Wenn du dich jetzt zurückziehst, wird die Gesellschaft einen Skandal wittern – und das wird als Makel an dir hängen bleiben