»Nur gelegentlich«, erwiderte der Hauptkommissar. »Ich schreibe ihm üblicherweise zu Weihnachten, und er antwortet mir einen Monat später mit Neujahrswünschen.«
»Hast du auch eine Telefonnummer von ihm?«
»Selbstverständlich. Wieso fragst du?«
»Ich habe mich nie mit ihm ausgesöhnt ... wegen damals«, erklärte Jean-Baptiste. »Ich dachte, es wäre vielleicht an der Zeit, das mal zu tun.«
»Das ist sehr anständig. Ich gebe dir seine Nummer sofort«, meinte Bertillon und zog sein Mobiltelefon.
»Danke!«
Als sie aufgeraucht hatten und der Hauptkommissar das Gebäude betreten hatte, rief Jean-Baptiste Mellier an. Er wollte auch Mellier gegenüber die Versöhnung als Vorwand für das Gespräch nutzen, bevor er über Goldberg reden würde. Viel Hoffnung machte Jean-Baptiste sich allerdings nicht. Der Fall lag lange zurück, und es gab keinen Grund, dass Mellier mehr wusste, als was in der Akte dokumentiert war. Doch es konnte auch nicht schaden.
Jean-Baptiste erreichte Mellier, der zwar im Moment im Urlaub auf den Malediven weilte, jedoch am Wochenende der nächsten Woche in Paris sein würde. Er versprach, sich dann mit Jean-Baptiste auf ein Bier zu treffen.
Nach diesem erfreulichen Telefonat traf Jean-Baptiste eine Entscheidung. Am Vortag hatte er die Idee gehabt, einen alten Freund um Rat im Fall Goldberg zu bitten, dann jedoch gezögert. Gilles Ho war zu Zeiten der Polizeischule Jean-Baptistes bester Freund gewesen, doch sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Gilles Ho hatte eine steile Karriere gemacht und arbeitete schon seit Jahren bei der Direction Centrale du Renseignement Intérieur, kurz DCRI, der französischen internen Staatssicherheit. Ho war ein Star im französischen Sicherheitsapparat und hatte mit Sicherheit Wichtigeres zu tun, als in einem für alle außer Jean-Baptiste gänzlich irrelevanten fünfzehn Jahre alten Fall herumzustochern. Jetzt, in diesem Moment des Wohlbefindens entschied Jean-Baptiste, dass es nichts zu verlieren gab. Er hoffte ja nur auf einen Rat. Also kramte er die alte Visitenkarte seines Freundes, die er am Morgen in weiser Voraussicht in sein Portemonnaie gesteckt hatte, hervor. Jean-Baptiste wusste, dass die handschriftlich darauf vermerkte Mobilfunknummer selbst nach den vielen Jahren noch dieselbe war, auch wenn Titel und Adresse auf der Karte längst veraltet waren. Dann zückte er sein Handy.
Wenn Jean-Baptiste sich Sorgen gemacht hatte, dass es kompliziert sein könnte, diese alte, so lange ruhende Freundschaft zu reanimieren, waren diese unbegründet gewesen. Er erreichte Gilles Ho sofort, und das kurze Gespräch war herzlich. Jean-Baptiste schlug seinem Freund vor, ihn zum Abendessen zu sich nach Hause einzuladen. Ho freute sich über die Einladung, und sie einigten sich gleich auf den Abend des folgenden Tages.
Großartig!, freute sich Jean-Baptiste. Und seine Freude darauf, den alten Freund wiederzusehen, war mindestens ebenso groß wie die, dass er Gilles um Rat im Fall Goldberg fragen können würde. Er war Realist und wusste, dass er auch mit Gilles Hos Hilfe aller Wahrscheinlichkeit nach nicht weiterkommen würde.
Er täuschte sich. Dieses Gespräch sollte für alles Weitere von entscheidender Bedeutung sein. Doch damit nicht genug. Es war nur ein kurzes Gespräch gewesen. Dennoch – hätte Jean-Baptiste es nicht geführt, sondern wäre er direkt nach dem Mittagessen, ja selbst nach der Zigarette an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, hätte er mit Sicherheit jemanden an seinem Schreibtisch ertappt, der dort nicht hingehörte.
So begegnete Jean-Baptiste Marie Bouvier im Eingangsbereich des Großraumbüros. Er beobachtete sie interessiert, wie er es immer tat. Ihre Körpersprache sagte ihm, dass sie nervös war. Und das überraschte Jean-Baptiste. Nicht dass sie nervös schien. Dafür konnte es tausend gute Gründe geben. Doch Marie Bouvier gehörte zu den wenigen Kollegen, deren Regungen er normalerweise überhaupt nicht zu deuten vermochte. Schon oft hatte er überlegt, was im Inneren dieser merkwürdigen jungen Frau vorgehen mochte, die einerseits aufgrund ihres Aussehens die Aufmerksamkeit aller genoss und andererseits niemandem besondere Aufmerksamkeit zu schenken schien.
Marie Bouvier.
Wenn Marie erwartet hatte, eine vom Jetlag und einem langen Flug mitgenommene Anne Cabart anzutreffen, als sie um 7 Uhr bei der Marketingchefin Mod’écos zu Hause klingelte, hatte sie sich getäuscht. Als ihr geöffnet wurde, stand sie einer ausgesprochen gut aussehenden jungen Frau mit nassem Haar im Bademantel gegenüber, die durch eine gesunde Urlaubsbräune noch an Attraktivität gewann.
»Ja bitte?«, fragte Cabart.
»Guten Morgen, Frau Cabart. Ich bin Marie Bouvier von der Pariser Justiz- und Kriminalpolizei«, begann Marie sachlich und zeigte ihren Dienstausweis.
Cabart beugte sich vor, wobei ihr Bademantel verrutschte und ein Stück Busen freilegte.
»Frau Cabart«, fuhr Marie fort, »es gibt einen Verdacht auf einen Fall von illegalem Insiderhandel bei Mod’éco. In den letzten Tagen habe ich bereits mit Frau Delacourt, Herrn Johnson und Ihren Kollegen aus dem Mod’éco-Management gesprochen. Ich benötige auch von Ihnen eine Aussage.«
Cabart zögerte. Befremdet starrte sie Marie an. Dann jedoch nickte sie.
»Sicher, kommen Sie rein.«
Das geht ja leichter, als erwartet, dachte Marie.
»Nehmen Sie Platz, ich ziehe mir nur kurz was an«, sagte Cabart, nachdem sie Marie in die Wohnung geführt hatte.
»Danke.«
Cabart war intelligent und voller Energie und Zuversicht. Wie ihre Kollegen erwähnte sie die Krisensitzung am 10. April. Auch sie gab an, keine Patricia Courtois zu kennen und keinerlei Verdacht zu haben. Und genau wie ihre Kollegen schien Cabart höchstens ein mäßiges Interesse an der Angelegenheit zu haben. Marie war enttäuscht, dass erneut alles passte. Als sie Cabart fragte, wer am ehesten über die Fähigkeiten verfügte, einen solchen Finanzbetrug durchzuführen, antwortete die Marketingchefin, ohne zu zögern:
»Gael. Man muss sich gut mit den Finanzmärkten und rechtlichen Fragen auskennen. Gael weiß alles in dem Bereich. Aber er ist über alle Zweifel erhaben. Gael ist der Loyalste von uns allen. Wenn Anne – Frau Delacourt – das Herz Mod’écos ist, dann ist Gael die Seele.«
Marie nickte. Auch dieses Bild wurde von allen Mod’éco-Mitarbeitern einheitlich gezeichnet. Es galt hier jedoch zwei Sachen auseinanderzuhalten: Einerseits qualifizierten Johnson seine Fähigkeiten am ehesten für den Finanzbetrug. Andererseits schien ihm dies aufgrund seiner Einstellung gegenüber dem Unternehmen und seiner Persönlichkeit niemand zuzutrauen.
Und wenn sie sich täuschen?, dachte Marie. Wenn ein Schaf aus einer Schafherde gefressen wird und als Tatverdächtige ein Wolf und die restlichen Schafe der Herde infrage kommen, wird kaum jemand daran zweifeln, wer der Übeltäter ist, selbst wenn es sich um den liebsten Wolf der Welt handelt.
Sie unterhielten sich noch ein bisschen. Marie erfuhr jedoch auch weiterhin nichts Neues.
Es war 12 Uhr, als Marie ins Kommissariat kam. Kaum hatte sie ihren Arbeitsplatz erreicht, tauchte Michel Moncourt an ihrem Schreibtisch auf.
»Hattest vorgestern Abend versucht, mich anzurufen«, sagte Moncourt, ohne zu grüßen.
Das hatte Marie fast vergessen.
»War im Fitnessstudio«, fuhr Moncourt fort. »Danach war’s bisschen spät. Wollt’ dich da nich’ mehr stören. Wolltste mit mir ausgehen? Heut’ Abend hätt’ ich Zeit.«
Er grinste. Marie verdrehte die Augen und seufzte.
»Michel, Michel«, sagte sie mit gespieltem Bedauern, »ich befürchte, du schätzt mich vollkommen falsch ein. Du scheinst mich für eine hoffnungslose Romantikerin zu halten, dabei bin ich doch Marie Unantastbar Bouvier und wollte mich gänzlich unromantisch nur erkundigen, wie unser Freund JB mit seinem Fall vorankommt.«
»Woher