Noch nachdenklicher wurde Oblomow, als Kuverts mit der Aufschrift »eilig« und »sehr eilig« an seinen Augen vorüberhuschten und als ihm aufgetragen wurde, allerlei Nachforschungen anzustellen, Auszüge zu machen, in den Akten umherzuwühlen und zweifingerdicke Hefte abzuschreiben, die wie zum Hohn »Notizen« genannt wurden. Zudem wurde immer schnelles Arbeiten verlangt; alle hatten es eilig und machten nie eine Pause; kaum hatten sie eine Sache erledigt, so griffen sie mit einer wahren Wut nach einer andern, als ob gerade die die Hauptsache wäre; wenn sie aber mit ihr fertig waren, so vergaßen sie sie und stürzten sich auf eine dritte – und dieses Hasten nahm nie ein Ende!
Ein paarmal veranlaßte man ihn, in der Nacht aufzustehen und »Notizen« zu schreiben; einige Male wurde er, wenn er irgendwo zu Besuch war, durch einen Amtsboten abgerufen, immer wegen eben dieser Notizen. All dies versetzte ihn in Angst und arge Mißstimmung. »Wann soll man denn leben? Ja, wann soll man leben?« fragte er sich immer wieder.
Über den Chef hatte er in seiner Heimat gehört, dieser sei der Vater seiner Untergebenen; und daher hatte er sich von dieser Persönlichkeit eine höchst freundliche, familienhafte Vorstellung gemacht. Er hatte ihn sich als eine Art von zweitem Vater vorgestellt, der nur daran denke, wie er seine Untergebenen für ihre Verdienste und ohne ihr Verdienst unaufhörlich belohnen könne, und der nicht nur für ihre Bedürfnisse, sondern auch für ihr Vergnügen sorge.
Ilja Iljitsch hatte gedacht, der Chef versetze sich so sehr in die Lage seines Untergebenen hinein, daß er ihn besorgt frage, wie er in der Nacht geschlafen habe, warum seine Augen so trübe aussahen, und ob ihm auch nicht der Kopf weh tue. Aber er sah sich gleich am ersten Tage seiner dienstlichen Tätigkeit grausam enttäuscht. Bei der Ankunft des Chefs begann ein Hin- und Herrennen, ein hastiges Treiben; alle gerieten in Verwirrung; einer stieß den andern beinah um; manche strichen und zupften ihren Anzug zurecht aus Besorgnis, daß sie nicht gut genug aussähen, um sich dem Chef zu zeigen.
Dies kam, wie Oblomow später wahrnahm, daher, daß es Chefs gibt, die in dem bis zur Verdummung erschrockenen Gesichte eines ihnen entgegenspringenden Untergebenen nicht nur Respekt gegen ihre Person, sondern sogar Eifer für den Dienst und manchmal sogar Befähigung zu diesem erblicken.
Ilja Iljitsch brauchte vor seinem Chef nicht zu erschrecken. Dieser war ein gutherziger, im Umgange angenehmer Mensch; er tat nie jemandem etwas Böses; seine Untergebenen waren im denkbar höchsten Maße zufrieden und wünschten sich keinen besseren. Niemand hatte jemals von ihm ein unfreundliches Wort, ein Anschreien oder Lärmen gehört; er forderte nie etwas, sondern bat immer nur. Er bat, man möchte eine Arbeit erledigen; er bat, man möchte ihn besuchen; er bat sogar, man möchte in Arrest gehen. Er duzte nie jemand; alle nannte er »Sie«, sowohl den einzelnen Beamten als auch alle zusammen.
Aber trotzdem waren alle Beamten bei Anwesenheit des Chefs ängstlich; sie antworteten auf seine freundlichen Fragen nicht mit ihrer gewöhnlichen Stimme, sondern mit einer andern, mit der sie zu keinem der übrigen Menschen sprachen.
Auch Ilja Iljitsch wurde plötzlich ängstlich (er wußte selbst nicht warum), wenn der Chef ins Zimmer trat; er verlor seine gewöhnliche Stimme, und es kam dafür aus seiner Kehle eine andere, dünne, häßlich klingende, sobald der Chef mit ihm zu reden begann.
Selbst unter einem so guten, leutseligen Chef hatte Ilja Iljitsch sehr von Angst und Sorge zu leiden. Gott weiß, was aus ihm geworden sein würde, wenn er an einen strengen und anspruchsvollen geraten wäre!
Mit Mühe und Not brachte Oblomow zwei Dienstjahre hinter sich; vielleicht hätte er sich auch noch durch ein drittes hindurchgeschleppt, nach dessen Ablauf er einen höheren Rang erhalten haben würde; aber ein besonderer Fall veranlaßte ihn, den Dienst früher zu quittieren.
Er sandte eines Tages ein eiliges Schriftstück, statt nach Astrachan, nach Archangelsk ab. Die Sache kam ans Licht; man suchte den Schuldigen.
Alle andern warteten gespannt darauf, daß der Chef Oblomow werde rufen lassen und ihn kühl und ruhig fragen werde, ob er das Schriftstück nach Archangelsk gesandt habe, und alle waren neugierig, wie Ilja Iljitschs Stimme bei der Antwort auf diese Frage klingen werde.
Einige vermuteten, er werde überhaupt nicht antworten; er werde dazu nicht imstande sein.
Beim Anblick der Gesichter der andern bekam Ilja Iljitsch es selbst mit der Angst, obgleich er und alle übrigen wußten, daß der Chef sich auf einen Verweis beschränken werde; aber sein eigenes Gewissen war weit strenger als der Vorgesetzte. Oblomow wartete die verdiente Strafe nicht ab, sondern ging nach Hause und sandte ein ärztliches Attest ein.
In diesem Atteste hieß es: »Ich Unterzeichneter bescheinige unter Beidrückung meines Siegels, daß der Kollegiensekretär Ilja Oblomow an Vermehrung der Muskelsubstanz des Herzens mit Erweiterung der linken Herzkammer (Hypertrophia cordis cum dilatatione eius ventriculi sinistri), sowie auch einer chronischen Leberkrankheit (Hepatitis) leidet, die sich in einer der Gesundheit und dem Leben des Kranken gefährlichen Weise zu entwickeln droht, welche Erscheinungen, wie man annehmen muß, von der täglichen Tätigkeit auf dem Büro herrühren. Um daher einer Wiederholung und Verschlimmerung der krankhaften Anfälle vorzubeugen, halte ich es für notwendig, Herrn Oblomow die dienstliche Tätigkeit einstweilen zu untersagen, und verordne ihm überhaupt Enthaltung von geistiger Beschäftigung und jeder Arbeit.«
Aber das half nur einstweilen: er mußte ja doch einmal wieder gesund werden, und dann stand ihm wieder die tägliche Tätigkeit auf dem Büro bevor. Das hielt Oblomow nicht aus und reichte seinen Abschied ein. So endete seine Tätigkeit im Staatsdienste und wurde nachher nicht wieder aufgenommen.
Seine Rolle in der Gesellschaft schien zunächst glücklicher zu gelingen.
In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Petersburg, in seinen Jugendjahren, belebten sich seine ruhigen Gesichtszüge häufiger; die Augen leuchteten lange von Lebensfeuer, und Strahlen von Licht, Hoffnung und Kraft gingen von ihnen aus. Wie andere Menschen regte er sich auf, hoffte, freute sich über Kleinigkeiten und grämte sich über Kleinigkeiten. Aber all das lag schon weit zurück, noch in jenem Lebensalter der Zärtlichkeit, wo der Mensch in jedem andern Menschen einen aufrichtigen Freund sieht und sich fast in jede Frau verliebt und bereit ist, einer jeden sein Herz und seine Hand anzubieten, was manchem sogar zur Ausführung zu bringen gelingt, oft zu großer späterer Bekümmernis für das ganze Leben.
In diesen wonnevollen Tagen fielen auch Ilja Iljitsch nicht wenige samtweiche und sogar leidenschaftliche Blicke schöner weiblicher Wesen zu, Blicke, die von einem vielversprechenden Lächeln begleitet waren, ferner zwei oder drei nichtprivilegierte Küsse und noch mehr freundschaftliche Händedrücke, die ihn bis zu Tränen schmerzten.
Übrigens gab er sich diesen Schönen niemals gefangen, war nie ihr Sklave, nicht einmal ein sehr eifriger Anbeter, schon deshalb nicht, weil man viele Mühe und Unbequemlichkeit nötig hat, um den Frauen nahe zu kommen. Oblomow beschränkte sich mehr auf eine Anbetung von weitem, aus respektvoller Entfernung.
Nur selten brachte ihn das Schicksal mit einer Frau in der Gesellschaft so energisch in Berührung, daß er für einige Tage aufflammte und sich für verliebt halten konnte. Infolgedessen entwickelten sich seine Liebschaften nicht zu Romanen: sie blieben gleich am Anfange stehen und konnten sich an Unschuld, Harmlosigkeit und Reinheit mit den Liebeleien einer Pensionärin im Backfischalter messen.
Am meisten mied er jene blassen, traurigen Jungfrauen, die größtenteils schwarze Augen haben, aus denen »die Tage voller Qual, die Nächte ohne Schlaf« hervorleuchten, Jungfrauen, deren Leiden und Freuden niemand kennt, und die immer etwas anzuvertrauen und zu sagen haben, und wenn sie es nun sagen sollen, zusammenfahren, plötzlich in Tränen ausbrechen, dann auf einmal die Arme um den Hals des Freundes schlingen, ihm lange in die Augen und dann gen Himmel schauen und sagen, daß ihr Leben von einem Fluche belastet sei, und manchmal in Ohnmacht fallen. Solchen Jungfrauen ging er ängstlich aus dem Wege. Seine Seele war noch rein und jungfräulich; sie wartete vielleicht auf ihre wahre Liebe, auf ihre glühende Leidenschaft; aber dann, mit den Jahren,