Inzwischen hatte Doris alle Essentabletts der Patienten wieder eingesammelt und Monika bestückte den Bettenwagen für die Abendrunde. Tom beschloss, noch einen Blick in Zimmer zwei zu werfen. Er empfand so ein ungutes Gefühl. Außerdem konnte er gleich prüfen, ob die Infusion durchgelaufen war.
Langsam öffnete er die Tür. Eine schummrige Beleuchtung herrschte im Raum, da nur die Leselampe am Bett brannte.
Die Leselampe? Er stutzte. Wer hatte die denn angemacht?
Mit zwei Schritten betrat er das Zimmer. Das Bett war leer. An den Seiten hingen die Fuß- und Handfesseln herunter. Die rechte Fixierung schien noch geschlossen – offenbar war der Patient da hinausgeschlüpft – aber die anderen drei standen offen. Wie konnte das sein?
Der Magnet, mit dem sich die Verschlüsse öffnen ließen, hing nicht mehr da. Tom fand ihn neben Herrn Jungks Nachtschrank. Wie war der da nur herangekommen? Selbst, wenn er die rechte Hand befreien konnte, die Entfernung bis zum Nachbarbett betrug über drei Meter!
»Scheiße!« Er drehte sich um und rannte hinaus. Vor Zimmer 1 stand der Bettenwagen, die Anwesenheitsleuchte brannte dort. Offenbar hatte seine Kollegin schon mit der Bettenrunde begonnen. Ansonsten war der Gang leer.
»Monika!«
Die Schwester kam heraus. »Was ist ...?«
»Herr Jungk hat sich befreit, er ist weg!«
Die Fröhlichkeit wich mit einem Schlag aus ihrem Gesicht. »Was? Wie ...?«
»Weiß ich nicht ... Er ist irgendwie an den Magneten gekommen ... Jetzt ist er geflohen!«
»Mist ... der kann sonst wo sein, inzwischen! Ich ruf den Sicherheitsdienst!«
Monika nahm das tragbare Telefon und tippte die Nummer des hausinternen Sicherheitsdienstes ein. Als Tom das Krankenzimmer noch einmal betreten wollte, wurde dessen Tür von innen aufgestoßen und knallte ihm ins Gesicht. Er taumelte zurück, Sterne vor den Augen. Eine große magere Gestalt im Krankenhausnachthemd schoss aus dem Zimmer und rannte lautlos – weil barfuß – den Stationsflur entlang, genau zur Glastür am Ende des Korridors.
Benommen wankte Tom an die gegenüberliegende Wand. Aus einer Platzwunde sickerte Blut. Der Abdruck der Türkante zeichnete sich auf seiner Stirn ab.
Monika stand mit dem Rücken zu ihm und telefonierte. Sie hatte scheinbar nichts mitbekommen. »Jungk ... ja, mit G-K! Wie er aussieht? Sehr groß, mager und blass! Wie viele Leute, die nur mit einem Nachthemd bekleidet sind, werden bei den Temperaturen schon hier herumrennen?«
Verärgert drehte sie sich herum und sah Tom, der mit blutiger Stirn dastand, und Herr Jungk, der durch die Glastür am Ende der Station schlüpfte.
»Du liebe Zeit, Tom!«
Er reagierte nicht auf sie, sondern setzte an, den durchgedrehten Patienten zu verfolgen.
»Tom warte, du bist verletzt!«
Im Nu hatte er den Stationseingang erreicht und lief hindurch. Von hinten hörte er Monika, die immer noch telefonierte: »... gerade die Station verlassen ... unser Pfleger verfolgt ihn ...«
Der Krankenhausflur wirkte leer. Allerdings gab es nur eine dämmrige Beleuchtung und draußen war es schon dunkel, so, dass durch die Fenster kein Licht hereinfiel.
Etwa alle 10 Meter gab es in der Wand eine Nische mit einer Bank und einer großen Grünpflanze in einem Topf. Diese lagen im Dunkeln. Ca. 30 Meter weiter sah man die Glastür der nächsten Station, der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung.
Aber so weit konnte Herr Jungk nicht gekommen sein, auch wenn er sich scheinbar mit einer unheimlichen, lautlosen Schnelligkeit bewegte! Wahrscheinlich versteckte er sich hinter einer der Pflanzen. Vorsichtig schlich Tom näher. Das Krankenhaus schien an der Beleuchtung zu sparen, die wenigen Lampen an der Decke leuchteten nur schwach und der größte Teil des Flurs lag im Schatten. Die Nischen waren gar nicht beleuchtet.
Mit einem Satz sprang er nach vorn. Die erste Nische war leer.
Voller Anspannung wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, welches von seiner Stirn lief. Ein Scharren drang durch den Gang. Das musste er sein! Achtsam huschte Tom vorwärts. Als sich von hinten eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er mit einem Aufschrei herum. »Monika!«
»Tut mir leid ... wollte dich nicht erschrecken ...« Sie sah ihm ernst in die Augen, wie er sie selten sah.
»Was ist denn?«
»Ich habe mit dem Sicherheitsdienst und Dr. Hendrich telefoniert. Von der anderen Seite des Flurs kommt ein Wachmann. Hendrich hat 2 mg Tavor i.m. angeordnet. Ich war so frei, es aufzuziehen.« Monika drückte ihm eine Spritze und eine Sprühflasche Hautdesinfektion in die Hand. »Wenn der Wachmann ihn aufgehalten hat, hau es ihm einfach rein!«
Er nickte und nahm beides entgegen.
»Und lass mich wenigstens schnell die Platzwunde ...«
Eine Bewegung in Toms Augenwinkeln ließ ihn wieder herumfahren. Mit wedelndem Nachthemd flitzte eine große Gestalt lautlos den Flur hinunter. Er setzte zur Verfolgung an.
Für einen so kranken Patienten bewegte sich Herr Jungk erstaunlich flink. Das konnte nur an den langen Beinen liegen, denn Tom hielt sich selbst für besser in Form als ein langjähriger Alkoholiker mit fortgeschrittenem Magen-Karzinom und Leberzirrhose.
Zwischen den Lichtkegeln lagen Bereiche aus schattigem Dunkel. In den dunklen Flecken sah er den Flüchtigen verschwinden und in den Lichtinseln wieder auftauchen. Bis er plötzlich verschwand.
Außer Atem kam Tom an der Stelle an. Neben ihm fiel eine Tür ins Schloss. Herr Jungk war im Schutz der Dunkelheit ins Treppenhaus gehuscht. Gar nicht so dumm.
Am anderen Ende des Flurs erkannte er jetzt einen Wachmann mit Taschenlampe, der flott angelaufen kam. Es handelte sich um einen großen, schwer aussehenden Mann mit kurzen blonden Haaren. Er mochte Mitte 30 sein und trug die dunkelblaue Uniform des Wachdienstes, welcher für das Krankenhaus arbeitete. Sein Namensschild verriet Tom, dass er es mit Lutz Meisters zu tun hatte. Meister Meisters, dachte er belustigt.
»Der Chirurgiepatient? Herr Jungk?«
Außer Atem nickte er Richtung Treppe. »Er ist da rein!«
Der Wachmann stieß die Tür auf und lief ins Treppenhaus. Tom folgte ihm. Meisters stellte sich ans Geländer und leuchtete mit der Taschenlampe abwechselnd nach oben und nach unten. Vom Flüchtigen war nicht das Geringste zu sehen.
Im Treppenhaus herrschte eine noch gedämpftere Beleuchtung als auf dem Krankenhausflur, obwohl Tom gedacht hatte, dunkler ginge nicht, ohne das Licht komplett abzuschalten.
Naja, Strom kostete Geld und das Krankenhaus musste sparen, sollten die Patienten ruhig die Treppe hinunterstürzen ... Unfassbar. Wenigstens einen Bewegungsmelder hätte man anbringen können!
Er holte Luft, um etwas zu sagen, doch Meisters bedeutete ihm in einer Handgeste, zu schweigen. Sekundenlang drang kein Laut durch die Stille des Treppenhauses. Tom hörte nur seinen eigenen Atem, während der Wachmann angespannt auf ein Geräusch wartete.
Plötzlich vernahmen sie ein Knarren, gefolgt von einem Türknallen. Wie von einer Tarantel gestochen setzte sich Meisters in Bewegung und sauste die Treppe hinunter in den Keller, dass Tom Mühe hatte, Schritt zu halten. Der Uniformierte schien 5 Stufen auf einmal zu nehmen. Unten riss er die Kellertür auf und flitzte hindurch, der Krankenpfleger dicht hinter ihm.
Einzelne Deckenlampen beleuchteten dürftig den Kellerflur, den Monika ihm in den ersten Tagen gezeigt hatte. In regelmäßigen Abständen sah er die unterirdischen Korridore zu den Außengebäuden abzweigen, die im Dunkeln lagen.
Mit zügigen Schritten schlenderte Meisters den Flur entlang und leuchtete mit der großen Stabtaschenlampe in jeden Gang hinein. Beim Vierten hielt er inne. Tom holte ihn ein und folgte mit seinem Blick dem Taschenlampenstrahl. Der Wachmann beleuchtete einen etwa 30 Meter langen Korridor, an dessen Ende gerade langsam eine massive Metalltür ins Schloss fiel.