Winterkönig. N. H. Warmbold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: N. H. Warmbold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783073
Скачать книгу
ich halte ihre Reaktion für verständlich. Sie musste abrupt und auf überwältigende Weise feststellen, dass das süße, kleine Mädchen, das in der Nacht noch voller Hingabe in ihren Armen lag, eine gefährliche, eine mächtige Person ist. Sina ist schlicht und einfach schockiert. Gib ihr Zeit, das zu verarbeiten.“

      „Aber du …“, wandte Gènaija ein.

      „Ich wusste das, bevor ich mit dir geschlafen habe, Gènaija.“

      „Ja, vielleicht hast du Recht.“ Gènaija nickte, biss sich auf die Lippen. „Trotzdem tut es weh.“

      „Ja. Festzustellen, dass die Person, für die man Zuneigung empfindet, der man nur Gutes wünscht, Angst vor einem hat, das tut sehr weh.“

      Sie kniff die Lider zusammen. „Warum schaust du mich so an? Ich habe keine Angst vor dir, Reik.“

      „Aber du misstraust mir.“

      „Mit Recht! Du hast mir auf der Reise immer nur Halbwahrheiten erzählt. Falls du überhaupt einmal etwas gesagt hast.“

      „Gènaija, ich konnte dir nicht mehr erzählen“, versuchte er sein Verhalten zu erklären. „Ich wollte, dass du unvoreingenommen in den Tempel gehst, damit du es leichter hast, auch mit Lorana.“

      „So? Ich komme ganz gut mit Lorana klar, meistens jedenfalls“, erzählte sie freimütig. „Anfangs hat sie noch versucht, in meinen Geist einzudringen, was ihr nicht gelungen ist. Irgendwann wurde ich es leid, dass immer nur ich Kopfschmerzen hatte, und da habe ich mich gewehrt. Einmal nur, und seither hat sie es nie wieder versucht. Sie hat wohl ein bisschen Angst vor mir, und manchmal ist sie richtiggehend beeindruckt, natürlich ohne es zu zeigen. Am liebsten wäre ihr, ich würde eine Priesterin, denn dann würde ich richtig zum Tempel gehören.“

      Reik runzelte die Stirn. „Hat sie das gesagt?“

      „Nicht direkt … Doch sie hat mir angeboten, mich in der Nacht vor der Sommersonnenwende zur Priesterin zu weihen. Und sie müsste sich über einige Tempelgesetze hinwegsetzen, um das zu tun. Also liegt ihr wohl einiges daran, meinst du nicht?“

      Reik hätte aus dem Stehgreif mindestens drei aufzählen können und sah Gènaija beunruhigt an. „Du hast … Gènaija, hast du ihr Angebot etwa angenommen?“

      „Natürlich nicht“, erklärte sie ruhig, „Ich muss für mich selbst entscheiden können.“

      Erleichtert ließ er sich im Sessel zurücksinken. Doch was war an der Vorstellung eigentlich so erschreckend? Gènaija machte doch ohnehin nur, was sie für richtig hielt, unabhängig von anderen. Sie stellte sich sogar einem König entgegen. Nachdem sie zuvor eine Hohepriesterin brüskiert hatte.

      Gènaija schüttelte den Kopf. „Weißt du, Reik, du lebst wirklich in einem merkwürdigen Land. Man sollte meinen, eure Lage sei schwierig genug, mit den Ostländern, den ständigen Kriegen. Ihr aber macht es euch auch noch innerhalb des eigenen Landes schwer: Tempel gegen Palast, Hohepriesterin gegen König, Vater gegen Sohn. Warum bloß, ich verstehe das nicht?“

      Verbittert verzog er das Gesicht. „Wem sagst du das? Glaubst du, ich sehe das nicht? Aber ich habe keine Wahl. Mir bleibt nur, das fortzusetzen, was ich für richtig halte, auch wenn es mir viel zu oft verdammt sinnlos erscheint.“ Er sollte nicht jammern. Erwartete er etwa ihre Zustimmung, die Unterstützung dieser kleinen Verrückten, die selbst nicht wusste, was gut für sie war? Und mit der er am liebsten auf der Stelle die Laken geteilt hätte.

      Gènaija schwieg, sah ihn nur an. „Reik, ich …“

      Blitzschnell beugte Reik sich vor und legte ihr die Hand auf den Mund. „Sag nichts, Gènaija, bitte! Du würdest es später bereuen, also sag es erst gar nicht.“

      Mit großen Augen sah sie ihn an und zog sacht seine Hand von ihrem Mund. Ließ seine Hand jedoch nicht los, blickte ihn weiter unverwandt an.

      Oh, und er könnte, er wollte, lächelte sie aber nur herausfordernd an. „Warum tust du es nicht einfach, Kleines? Du möchtest doch.“

      „Ich …“ Einen Moment wirkte Gènaija verunsichert. „Du möchtest mich doch auch küssen und tust es nicht, ich könnte dich genauso gut nach dem Grund fragen.“

      „Könntest du. Bist du wütend auf mich?“

      Sacht schüttelte sie den Kopf. „Nein, bin ich nicht.“

      „Gut …“ Sie war so nah, und ihr Duft war so anziehend, dass er sie einfach küssen musste! Reik tat es aber nicht, sondern kämpfte gegen den zunehmenden Einfluss des Jägers. Gènaija war keine der erfahrenen Frauen, mit denen er sonst verkehrte, sie war ungleich empfindsamer, verletzbarer, er sollte vorsichtig sein. Auch wenn er sie noch so sehr begehrte, der Jäger … Aber er war nicht nur der Jäger!

      Reik zog sie auf die Füße. „Komm mal mit. Was hast du denn mit deinem Bein gemacht, hast du dich verletzt?“

      „Nur eine Schramme, nicht weiter schlimm“, wiegelte sie ab.

      „Aber du humpelst, du hast schon einige Male das Gesicht verzogen, als hättest du Schmerzen.“

      „Tatsächlich? Na ja, es tut ein bisschen weh. Wohin bringst du mich?“

      „Nach nebenan, in meine Zimmer. Ich müsste irgendwo noch …“

      Er ließ sie im Eckzimmer zurück, einem schönen, großen Zimmer mit blankpoliertem Holzboden und leicht nach außen gewölbten Wänden, Fenstern nach Süden und Westen. „Setz dich.“

      Sie nahm Platz, stand aber fast sofort wieder auf, um an die Fester zu treten und wie gebannt hinaus zu schauen. Der Ausblick war, selbst bei Nacht und Regen, bezaubernd, wunderschön.

      Schnell ging er ins Schlafzimmer, suchte im Schrank herum. Hörte Gènaija nebenan reden, nach ihm rufen.

      „Ich bin hier, komm ruhig herein.“

      Neugierig betrat sie das geräumige Zimmer, sein Schlafzimmer, und sah sich interessiert um. „Hier schläfst du also?“

      „Ja.“ Reik wandte sich zu ihr um und lachte, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Gefällt es dir nicht?“

      „Doch, ich bin nur etwas überrascht. Du legst wohl wenig Wert auf Möbel?“

      Bis auf das Bett, das zwischen den beiden hohen Fenstern stand, einer großen Truhe, zwei Schränken an der rechten Wand und einem Waschtisch war das Zimmer leer.

      Reik führte Gènaija ins Eckzimmer zurück. „Möbel lenken ab.“

      „Vom Schlafen?“

      „Von allem, besonders vom Arbeiten.“

      „Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Vielleicht liegt es daran, dass du dich zu leicht ablenken lässt?“ Ihre Stimme hatte jetzt einen geradezu frechen Tonfall.

      „Wenn mich etwas langweilt, dann ja. Lass mal sehen“, forderte er sie mit einer auffordernden Geste auf.

      „Das … das sollte ich lieber selber machen“, wich sie aus.

      „Würdest du im Tempel doch auch nicht.“

      „Nein, aber …“

      „Aber?“ Er grinste sie an. „Du bist albern, Gènaija.“

      Sie wurde prompt rot, stellte jedoch den rechten Fuß auf einen Stuhl und zog den Stoff des Morgenmantels bis fast zur Hüfte hoch.

      „Wie hast du das denn fertiggebracht?“ Skeptisch schüttelte Reik den Kopf. „Ich dachte immer, die Priesterinnen trainieren mit Holzschwertern?“

      „Tun sie auch. Aber ich darf inzwischen am Unterricht der Tempelwächterinnen teilnehmen, heute schon zum zweiten Mal, und die verwenden richtige Schwerter, allerdings stumpfe.“ Gènaija rümpfte die Nase. „Das riecht ja scheußlich, bist du sicher, dass die Salbe noch nicht verdorben ist?“

      „Die muss so riechen. Außerdem brennt es, wenn man sie aufträgt. Aber