Winterkönig. N. H. Warmbold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: N. H. Warmbold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783073
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sich Reik, ob sein Verhältnis zu Lorana besser, einfacher, wäre, gäbe es seinen Bruder Leif – Loranas Sohn – nicht. Oder hätte der ältere nicht bei der Probe versagt. Warum auch mussten sie Konkurrenten sein? Doch die Frage war müßig; die Dinge waren, wie sie waren, sie beide die Söhne ihres Vaters. Des Königs von Mandura.

      Und Mandura brauchte einen Winterkönig. In diesem Punkt war er sich mit der Hohen Frau, Lorana, ausnahmsweise einig gewesen.

      „Außerdem ist sie, wie soll ich sagen, unzufrieden. Ihre Zauberin entspricht nicht so ganz ihren Erwartungen und sagt ihr wohl nicht all das, was sie zu wissen wünscht.“

      „Ist das Mädchen etwa wirklich so dumm, Lorana gegen sich aufzubringen? Sie ist noch nicht einmal einen Tag hier.“

      „Wenn du mich fragst, nein.“ Er verzog das Gesicht. „Aber ich halte Gènaija für eine recht eigensinnige Person, die mitunter nicht weiß, was das Beste für sie ist. Oder es nicht wissen will.“

      Alina tunkte ein Stück Kuchen in ihren Tee und musterte ihn dabei aufmerksam. „Klingt für mich nach einer ziemlich kindischen Person.“

      „Nein, das wirklich nicht.“ Er schüttelte abwehrend mit dem Kopf. „Aber sie kann furchtbar stur sein. Du solltest sie kennenlernen. Vielleicht habe ich mich unklar ausgedrückt. Gènaija ist …“ Er hob die Hand, ließ sie dann aber mit einem Seufzer wieder sinken.

      „Du meinst, nicht kindischer als andere in ihrem Alter?“ beendete seine Mutter den Satz. „Und zudem ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, das dir nicht mehr aus dem Kopf geht.“

      Er lachte, sprang auf und umarmte seine Mutter innig. „Ich danke dir, dass du es so und nicht anders formuliert hast. So leid es mir tut, ich muss mich verabschieden.“

      „Aber du hast noch gar nicht gegessen“, wandte Tessa ein.

      Eilig trank er seinen Tee aus und stibitzte noch ein zweites Brötchen, lächelte seiner Mutter entschuldigend zu. „Das muss fürs Erste reichen. Wir sehen uns beim Abendessen.“

      Auf dem Weg vom Palast zu den Gebäuden der Garde bemerkte Reik eine Gruppe Gardisten, die auf dem Übungsplatz Stockkampf trainierte. Kurz erwog er, sich ihnen anzuschließen, doch womöglich erwartete Sandar, Hauptmann Sandar Sadurnim, ihn bereits.

      Sein Vetter, ein wuchtiger, großer Mann und einige Jahre älter als er, fläzte sich entspannt auf dem Sofa im Vorzimmer seines Arbeitszimmers, erhob sich bei Reiks Eintreten aber sofort.

      „Reik, wie schön, dich heil und gesund wieder hier zu haben!“, begrüßte Sandar ihn herzlich.

      „Tut gut, wieder hier zu sein. Du hast hoffentlich nicht lange auf mich warten müssen?“

      „Bin gerade erst gekommen“, beschwichtigte ihn Sandar.

      Sie begaben sich nach nebenan, in das Arbeitszimmer des Hauptmanns der Garde. Der große, lichte Raum wurde dominiert von einem schweren Schreibtisch aus dunklem Holz, vor dem drei bequeme Sessel standen. An den Wänden wechselten sich breite Schränke mit hohen Regalen ab, rechter Hand führte eine unauffällige Tür ins noch größere Sitzungszimmer, in dem die regelmäßigen Treffen der Gardehauptleute stattfanden.

      Reik ließ sich hinter den Schreibtisch nieder, die Fenster im Rücken, während Sandar in einem der Sessel Platz nahm und seufzend die langen Beine ausstreckte.

      „Und, erzähl. Wie war’s da unten im Süden?“, erkundigte Sandar sich neugierig. „Dein Mädchen habe ich ja gestern schon erlebt.“

      „Sie ist nicht mein Mädchen“, gab Reik gelassen zurück. „Hat Bro die ganze Geschichte nicht schon ein Dutzend Mal erzählt?“

      „Pah, Bro. Du weißt, dein Onkel und ich haben’s nicht so miteinander. Leckt der Hohen Frau die Füße …“

      Reik unterdrückte ein Grinsen. „Deine Verbindung zum Haus Sekassne wird demnächst sogar noch enger sein, wenn du erst Lucinda geheiratet hast.“

      Sandar verzog das Gesicht. „Eine Entscheidung der Familie, weniger meine. Du lenkst ab.“

      „War nicht meine Absicht. Und so viel gibt es gar nicht zu erzählen, da unten … Jenseits der Tameran-Kette ist vor allem Wald, dichter, nahezu unberührter Wald, Bäume, Bäume und nochmals Bäume. Versteckt und sehr vereinzelt findest du kleine Dörfer, winzige Weiler mit verängstigten, verdreckten Bewohnern, es ist …“ Abwehrend schüttelte er den Kopf. „Nicht schön, wirklich nicht schön, wie die Leute leben, sehr ärmlich. Selbst an einem Ort wie dieser ‚Burg‘ Ogarcha leben höchstens hundertfünfzig Menschen.“

      Reik bemühte sich, seinen Unwillen zu verbergen. „Sie selbst nennen es Burg, dabei ist es eine Ansammlung heruntergekommener, verrotteter Gebäude, in der ein paar Familien leben, oder eher hausen, direkt neben dem Dorf, das die Burgbewohner versorgt und bedient. Ein dummer Zufall, dass wir geradezu über diese Kerle gestolpert sind, die sich sofort bedroht fühlten und angriffen. Tja, und mein Onkel hat seine Leute nicht sonderlich gut unter Kontrolle, also haben wir Ogarcha … erobert.“

      „Ihr habt also nur durch Zufall, durch eine Verkettung unglücklicher Umstände dieses Mädchen, Loranas Zauberin, gefunden?“, wollte Sandar wissen.

      „Na ja …“ Er zuckte die Achseln. „Nennen wir es eine glückliche Fügung.“

      Sandar musterte ihn eindringlich. „Du klingst nicht sehr überzeugt.“

      „Von ihr? Oh, Gènaija ist überzeugend, sie ist großartig, fantastisch, alles. Ich habe nur meine Zweifel, wie sie auf einen Krieg Einfluss nehmen soll. Dafür braucht es ganz andere Fähigkeiten.“

      „Entschuldige die dreiste Frage, aber was genau kann die Kleine denn?“, beharrte Sandar.

      Reik zuckte einmal mehr die Achseln. „Träumen.“ Sie hatte vom Krieg geträumt. In ihrer ersten Nacht im Tempelbezirk in Manduras Hauptstadt Samala Elis. Und er hatte ihr nicht davon erzählt, mochte Lorana glauben, was sie wollte. Gènaija kannte diesen Traum, diese Vision nicht von ihm. Aus seinen Gedanken? Aber das konnte nicht sein, dann hätte sie ihm doch etwas gesagt.

      Er hätte vielleicht im Bezirk bleiben und sie darauf ansprechen sollen. Aber dazu war später noch Zeit. Sollte sie erst einmal in Ruhe ankommen und sich in dieser völlig neuen Umgebung eingewöhnen.

      „Offenbar sieht sie in ihren Träumen, Alpträumen, die Zukunft. Sie wusste, dass wir kommen. Und sie sah den Überfall … Hinterhalt der Ostländer bei den Dunklen Höhen voraus. Andere Dinge. Sie kann verdammt gut mit Tieren umgehen, sie … lenken, beeinflussen. Und … angeblich kann sie Gedanken lesen, deine, meine ...“ Er unterdrückte ein Grinsen. „Nur braucht sie dazu keine Hilfsmittel, keine Drogen. Wohingegen Bro nicht in ihre Gedanken kam, dabei hat er es mit aller Kraft versucht.“

      Sandar stieß die Luft aus. „Ein wirklich interessantes Mädchen, und so überaus … Ich liebe ihre roten Locken, und ihr Akzent ist hinreißend.“

      „In der Tat.“

      „Erzähl mir nicht, sie wäre nicht dein Mädchen, Reik“, lachte Sandar schelmisch. „Ich habe gesehen, wie du sie angesehen hast. Und sie dich. Also nimm sie dir.“

      „Wie?“ Reik stutzte, schüttelte irritiert den Kopf.

      „Ernsthaft, die Kleine ist entzückend, bildschön. Heirate sie, bevor es ein anderer tut, Reik. Ich würd‘ keine Sekunde zögern.“

      „Sandar …“

      „Deinem Vater gefällt sie auch.“ Wieder lachte Sandar, ein Lachen, dessen Unterton Reik nicht gefiel. „Ich hab‘ mich gestern ernsthaft gefragt, wer verführt hier eigentlich wen.“

      „Wovon redest du?“

      „Ich rede zu viel, fürchte ich.“ Sein Vetter, ein erfahrener Mann, jemand, mit dem er gut auskam, den er als Freund bezeichnen würde, biss sich auf die Lippen. „Entschuldige bitte, manchmal ...“

      Das Klopfen