Das Schiff hatte in Le Conquet angelegt und zahlreiche neue Passagiere kamen an Bord. Es dauerte nur wenige Minuten und das Schiff setzte seine Fahrt fort. Jetzt war die Île Molène das nächste Ziel. Ewen blieb eisern an Deck des Schiffes. Er stellte fest, dass er sich hier deutlich wohler fühlte als unter Deck, obwohl ihn der Wind ordentlich durchblies. Auch Jean machte keine Anstalten wieder hinunterzugehen. Seine Frau verweilte sicher noch im Gespräch mit Carla.
Die Fahrt zur Île Molène gestaltete sich deutlich ungemütlicher als das erste Drittel der Strecke. Die Wellen hatten an Höhe zugenommen. Beim Eintauchen in die Wellentäler brachen sich die Wellen am Bug des Schiffes und ließen die Gischt über das Vorderdeck hereinbrechen. Langsam begann die Fahrt unheimlich zu werden. Ewen hoffte, dass der Kapitän entsprechende Erfahrung besaß. Nach weiteren 40 Minuten gelangte das Schiff, vorbei an den mächtigen Felsformationen und den gefährlichen Riffen, die die Einfahrt zum Hafen der Insel säumten, sicher an den ins Meer hinaus gebauten Kai. Die Fahrt auf die Île Molène hätten sie sich sparen können, weder verließ ein Fahrgast das Schiff, noch stieg ein neuer ein, so dass der Kapitän nach wenigen Minuten das letzte Teilstück in Angriff nehmen konnte.
Ewen befürchtete, dass diese Strecke jetzt die schwierigste werden würde, so hatte er es zumindest den Broschüren von Carla entnommen. Auch sein Magen signalisierte ihm das. Bis gestern war ihm der Name Passage de Fromveur unbekannt gewesen. Seitdem er diese Broschüre gelesen und deren Inhalt durchdacht hatte, war der Name gleichbedeutend mit allen Übeln geworden, die einen nach dem Genuss von verdorbenen Lebensmitteln befallen können. Sein Unwohlsein steigerte sich. Je näher sie der berüchtigten Fahrrinne kamen, umso heftiger prallte die Gischt gegen die Bordwand, gegen die Fenster, und erste Fontänen erreichten bereits das Oberdeck. Bei Sturm, so war ihm in Erinnerung geblieben, war es keine Seltenheit, wenn die Wellen Höhen von 10 und mehr Metern erreichten. Allerdings würden die Fähren die Überfahrt dann einstellen. Es sei denn, dass sie bereits unterwegs waren. Er sah, dass die Matrosen ein Grinsen nicht unterdrücken konnten, als sich die ersten Passagiere den Weg zu den Toiletten bahnten. An den Wänden hingen Spender, aus denen die Passagiere kleine Plastiktüten entnehmen konnten, um bei einer Rebellion des Magens das Erbrochene aufnehmen zu können. Ein Matrose sah einer älteren Frau auf dem Weg zu einem Spender nach und rief ihr zu:
„Für drei volle Tüten gibt es eine kostenlose Überfahrt!“
Die Frau schien den Ausspruch nicht witzig zu finden und reagierte nicht darauf.
Je höher sich die Wellen aufschaukelten, und je lauter das Knirschen der Schiffskonstruktion zu vernehmen war, desto stiller wurde es auf dem Schiff. Ewen und Jean mussten das Deck verlassen, wenn sie nicht riskieren wollten, bis auf die Haut nass zu werden. Sie kämpften sich langsam die Treppe hinunter, zurück zu ihren Frauen, die, aus welchen Gründen auch immer, nichts von dem Unwetter mitzubekommen schienen. Carla und Marie unterhielten sich immer noch entspannt. Ewen sah zu seiner Frau. Sie saß lächelnd Marie gegenüber und gestikulierte heftig während ihrer Unterhaltung.
„Ach Ewen, habt ihr schon genug von der frisch Luft? Oh, du siehst aber bleich aus, mein Liebster. Schau, was ich uns gekauft habe, das gibt es nur hier an Bord.“
Carla holte aus ihrer Handtasche eine Seekarte hervor, die sie fein säuberlich eingerollt und in die Tasche gesteckt hatte.
„Schau, Ewen, auf dieser Karte sind alle Stellen markiert, an denen Schiffe untergegangen sind.“
„Toll, Carla, die Karte baut mich wieder richtig auf.“
Das seitliche Fenster neben ihrem Sitzplatz wurde immer wieder von dem Wasser der aufprallenden Wellen überspült, so dass Ewen den Eindruck hatte, auch ihr Schiff sei auf dem Weg zum Untergang. Ein Blick aus dem Fenster in Richtung des Bugs zeigte Ewen, dass die Matrosen in ihrem Ölzeug bereits damit beschäftigt waren, die Taue zum Anlegen des Schiffes vorzubereiten. Dieser Horrortrip wäre also gleich beendet. Viel länger hätte er dem Kampf mit den Elementen auch nicht mehr standhalten können. Carla machte sich zum Aussteigen bereit. Jetzt entdeckte Ewen den Namen des Schiffes. Fromveur II las er. Hätte er den Namen schon beim Einsteigen gesehen, wäre er vielleicht sofort wieder von Bord gegangen. Der Name konnte nur ein schlechtes Omen sein. Darunter stand jedoch, dass das Schiff von der Werft Piriou in Concarneau gebaut worden war. Die Werft war bekannt für solide Arbeit, was ihn wieder etwas beruhigte. Erst vor einem Jahr hatte die Reederei Penn Ar Bed das Schiff übernommen, las er weiter auf dem Plakat. Mit ihren 45 Metern Länge und beinahe 10 Metern Breite bot sie Platz für 365 Passagiere. Inzwischen hatte das Schaukeln fast völlig aufgehört, und die Fromveur II legte die letzten Meter zum Kai zurück. Dann vernahm er, wie die Motoren ausgeschaltet und die Gangway an Bord gezogen wurde. Er hatte die Fahrt überstanden. Die Passagiere, es waren vielleicht 100 oder 130, strebten dem Ausgang zu. Nur wenige zogen einen Trolley hinter sich her. Die überwiegende Zahl hatte lediglich einen größeren Rucksack dabei. Ewen schloss daraus, dass die Mehrzahl der Fahrgäste Tagesgäste oder Einwohner der Insel waren.
„Ich habe dich noch gar nicht nach unserem Hotel gefragt, Carla, wie heißt das Hotel und wo liegt es?“
„Das Hotel heißt Le Fromveur und liegt an der Rue du Fromveur.“
„Gibt es hier auf der Insel irgendetwas, das einen anderen Namen als Fromveur trägt?“
„Aber natürlich, Ewen, was hast du denn gegen diesen Namen? Wir haben diese gefährlichste Strömung Europas problemlos passiert. Es war doch ganz harmlos.“
Ewen sah das anders, wollte sich aber auf keine längere Diskussion einlassen.
Die Ankunft der Fähre schien das Hauptereignis auf der Insel zu sein. Es standen zahlreiche Menschen auf dem Kai und sahen zu, wie die Ankömmlinge von Bord kamen. Ewen hatte den Eindruck, als wäre das die tägliche Erheiterung für die Inselbewohner, mangels anderer Möglichkeiten der Belustigung. Auch Ewen verließ das Schiff und es kam ihm vor, als ob auch die Insel hin- und herschaukelte. Es dauerte einige Minuten, bis sich sein Gleichgewichtsorgan wieder auf den ruhigen festen Untergrund eingestellt hatte. Carla strebte zielsicher zu einer der bereitstehenden Navettes, die hier auf der Insel die Aufgaben eines Taxis übernahmen. Sie nannte dem Fahrer den Namen des Hotels. Der Mann, der ein großes Schild in Händen hielt, auf dem der Preis für eine Fahrt vom Hafen zum Hauptort Lampaul mit 2 Euro angegeben war, ging an die Rückseite seines Ford-Transit, öffnete die Hecktür und nahm Ewens Koffer entgegen. Carla sah, dass das frisch vermählte Ehepaar eine andere Navette ansteuerte. Gerade als Ewen in das Auto einsteigen wollte, erblickte er ein kleines Flugzeug, das sich der Insel näherte und bereits im Sinkflug war. Der Flughafen musste in unmittelbarer Nähe liegen. Der Navettefahrer schien zu ahnen, was Ewen gleichen fragen würde und beantwortete die unausgesprochene Frage.
„Die Landebahn liegt etwa 600 Meter entfernt von hier. Wir haben nur einen kleinen Flughafen auf unserer kleinen Insel.“
„Kommen viele Besucher mit dem Flugzeug?“, wollte Ewen wissen.
„Es hält sich in Grenzen, die überwiegende Zahl der Touristen kommt mit dem Schiff an. Das ist billiger. Ein einfacher Flug kostet immerhin um die 60 Euro pro Person. Die Finist’Air fliegt auch nicht das ganze Jahr über. Die Privatflugzeuge sind noch teurer. Zudem bleiben die Besucher meistens nur einige Stunden und fahren am späteren Nachmittag wieder mit dem Schiff zurück. Aber immerhin muss der Flughafen über 3000 Fluggäste im Jahr verkraften.“
Carla und Ewen bestiegen ihre Navette und fuhren die vier Kilometer zu ihrem Hotel, im Ortsteil Lampaul, dem Hauptort der Insel.
Alle Hotels, die Schule und die Geschäfte konzentrierten sich hier. Lampaul lag, vom Hafen aus gesehen, ziemlich exakt auf der gegenüberliegenden Seite der Insel.
„Früher hatten wir 1000 Einwohner, 1000 Schafe und ungefähr 500 Autos. Jetzt haben die Schafe die Mehrheit.“
„Hoffentlich