Es war Carlas Idee, diese freien Tage auf der 20 Km vor dem Festland liegenden Insel zu verbringen. Ihre Überlegung bestand schlicht und einfach darin, dass ein Urlaub auf einer entlegenen Insel die Möglichkeit bot, Ewen von seinem Büro zu trennen und ihn davon abzuhalten, zwischendurch am Arbeitsort anzurufen oder kurz vorbeizuschauen.
Sein Diensthandy sollte er ebenfalls zuhause lassen, damit er erst gar nicht in Versuchung kommen würde, sich kurzfristig mit seinem Kollegen Paul auszutauschen.
Paul Chevrier war nicht nur ein Kollege. Seit langer Zeit war er einer seiner besten Freunde. Ewen versuchte stets, seinem Freund nicht unnötig viel Arbeit aufzuhalsen und war der Meinung, dass er ihm einen Gefallen tat, wenn er regelmäßig nachfragte, ob er alleine klar kam.
Jetzt war es Freitagabend. Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub war vorbei. Ewen saß auf seiner Terrasse und genoss seinen Aperitif.
Carla war in seinen Augen eine besondere Frau. Stets war sie bemüht, ihm seinen Feierabend zu verschönern, sie verwöhnte ihn zum Aperitif mit feinsten Köstlichkeiten. Mit ihren amuses gueules könnte sie ein Vermögen verdienen, wenn sie diese kleinen Häppchen im großen Stil herstellen würde, dachte sich Ewen jedes Mal, wenn er wieder eine neue Sorte vorgesetzt bekam. Ewen war ein Liebhaber der Pâté au pommes, eine in der Bretagne verbreitete Fleischpastete. Carla schaffte es immer wieder, diese Pastete auf eine neue Art und Weise zu variieren.
Während er noch seinen Gedanken nachhing, war Carla dabei, die letzten Kleidungsstücke in den gemeinsamen Koffer zu verstauen. Am nächsten Morgen müssten sie schon sehr früh das Haus verlassen und nach Brest fahren. Die Fähre zur Insel verließ Brest bereits kurz vor 8 Uhr 30 und die Reederei sprach in ihren Broschüren davon, dass die Passagiere 40 Minuten vor der Abfahrt an Bord sein sollten. Die Fahrt nach Brest dauerte eine Stunde. Wenn er dann noch die Suche nach einem Parkplatz und den Fußweg zur Fähre berücksichtigte, mussten sie gegen halb sieben Uhr Quimper verlassen.
Ewen blätterte in den diversen Broschüren, die Carla aus der Stadt mitgebracht hatte. Er informierte sich über die Besonderheit der Insel, ihre Lage und Ausmaße und fand auch skurrile Textpassagen. So stand in einer der Broschüren, dass bereits seit ewigen Zeiten unter den Seefahrern der Spruch kursierte, qui voit Ouessant, voit son sang, was übersetzt so viel bedeutete wie, wer Ouessant sieht, sieht sein Blut. Damit war gemeint, dass derjenige, der sich der Insel näherte, seinem Ende entgegenging. Der Sinn, dieses doch sehr drastischen Seefahrerspruchs, lag in der besonderen Lage der Insel. Die Île d'Ouessant war von tückischen und gefährlichen Meeresgräben und Meeresströmungen umgeben. Es waren die Strömungen, die eine Annäherung so gefährlich machten. Man musste schon ein erfahrener Kapitän sein, um sein Schiff sicher in den Hafen zu bringen. Die Schiffe, die sich vom französischen Festland der Insel näherten, mussten die berüchtigte Fahrrinne, le Passage du Fromveur, durchqueren, in der die gewaltigste Gezeitenströmung Europas das Wasser aufpeitschte.
Ewen erinnerte sich an die Ölkatastrophe von 1978, dem Untergang der Amoco Cadiz. Dem Schiff war diese berüchtigte Fahrrinne zur Falle geworden. Ewen war jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es vernünftig war, ausgerechnet auf die Île d´Ouessant zu fahren. Er las weiter in seinen Broschüren und fand dann doch auch Aussagen, die ihn wieder etwas beruhigten.
Um diese Passage, eine der gefährlichsten der Welt, sicherer zu gestalten und Schiffsunglücken vorzubeugen, war nach dem Unfall der Amoco Cadiz, die Rail d'Ouessant, die Schiene von Ouessant geschaffen worden. Diese maritime Einrichtung regelte und überwachte per Radartechnologie und dem Einsatz von Hubschraubern die stark frequentierte Durchfahrt. Mehr als 50.000 Schiffe passierten hier jährlich.
Ewen dachte darüber nach. War es von Vorteil, dass diese Schiffsstraße so viele Schiffe verkraften musste, oder barg das eher Potential für Unfälle?
Carla riss ihn aus seinen Überlegungen.
„Ewen, kommst du bitte zum Essen?“
„Ich bin schon auf dem Weg!“, erwiderte er und machte sich auf den Weg zum Speisezimmer.
„Hast du gewusst, dass die Strömungen rings um Ouessant zu den gefährlichsten auf der ganzen Welt gehören?“ Ewen sah Carla erwartungsvoll an.
„Jetzt übertreib mal nicht so schamlos, Ewen. Du willst dich doch nicht plötzlich vor dem Urlaub drücken?“
„Nein, natürlich nicht vor dem Urlaub, vielleicht doch ein wenig vor der Überfahrt. Ich habe gerade gelesen, wie gefährlich die Umgebung der Insel ist. Es steht alles in den Broschüren, die du mitgebracht hast.“
„Die Überfahrt? Warum soll die so gefährlich sein? Für einen Kommissar der police judiciaire gibt es bestimmt gefährlichere Momente als so eine knapp dreistündige Schiffsfahrt.“
„Wenn ich ehrlich bin, dann ist mir nur Angst vor einer eventuellen Seekrankheit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine so raue See verkrafte.“
„Du wirst es überleben, mein Liebling. Darf ich dir etwas von dem Gemüse geben?“
Damit lenkte Carla das Gespräch wieder auf das Abendessen. Sie hatte nicht vor, die Koffer wieder auszupacken und die Reise nach Ouessant zu stornieren. Abgesehen davon, dass es auch reichlich spät dafür war.
Aber Ewen ließ nicht so schnell von dem Thema ab. Er war noch nie ein großer Freund der Seefahrt gewesen.
„Hast du gewusst, Carla, dass jedes Schiff, das die Insel vom Festland ansteuert, die sogenannte Passage de Fromveur überqueren muss?“
„Nein, das ist mir eigentlich auch egal. Warum fragst du mich danach?“
„Weil der Name Fromveur aus den bretonischen Worten froud und meur zusammengesetzt ist. Froud bedeutet Strömung und meur so viel wie groß. Es ist die größte Gezeitenströmung in ganz Europa. Das Meer wird hier regelrecht aufgepeitscht. Die Passage ist schon seit Jahrhunderten gefürchtet. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort, Wer die Insel sieht, sieht sein Blut.“
„Ewen, mir scheint, du hast zu viel Seemannsgarn gelesen.“
„Ganz bestimmt nicht, das steht alles in deinen Broschüren.“
„Das mag ja sein, Ewen. Vieles gehört der Vergangenheit an. Heute ist alles sicherer.“
Damit war das Gespräch über das Für und Wider einer Fahrt nach Ouessant vorerst beendet. Ewen hoffte inständig, dass ihnen das Wetter am nächsten Morgen einigermaßen gut gesonnen war. Einen halben Orkan würde sein Magen sicherlich nicht überstehen.
Nach dem Essen rief Carla noch ihre Tochter Marie an. Marie hatte versprochen, ihren Briefkasten regelmäßig zu leeren und den Pflanzen in der Wohnung Wasser zu geben. Danach setzte sie sich zu Ewen in den Salon. Ewen saß mit seinem Weinglas auf dem Sofa und genoss den Rest des Rotweins, den sie zum Essen geöffnet hatten. Als Carla ihr Glas dazustellte, nahm er die Flasche und goss auch ihr noch einen Schluck ein. Die Unterhaltung drehte sich noch eine Zeit lang um die gefährlichen Strömungen rund um Ouessant und über die, nicht von der Hand zu weisende, Gefahr einer Seekrankheit.
Ewen erzählte Carla von einer früheren Überfahrt, von Marseille nach Korsika, die er mit seiner ersten Frau einst unternommen hatte. In allen Einzelheiten berichtete er jetzt von der damaligen Fahrt. Schon bei der Schilderung seiner Erlebnisse hatte er das Gefühl, sofort wieder krank zu werden. Carla bremste den Redefluss dadurch, dass sie ihr Weinglas in die Hand nahm und ihm zuprostete.
„Du musst die Vergangenheit auch ruhen lassen können!“
Ewen hielt ein und wechselte das Thema. Wenig später gingen sie zu Bett.
Am nächsten Morgen brachen sie kurz nach halb sieben Uhr auf. Die Voie Express zwischen Quimper und Brest war beinahe menschenleer. Vereinzelt begegneten ihnen LKWs, die unterwegs zu den zahlreichen Intermarchés, Leclercs und SuperUs waren.
Ewen