„Aus den riesigen Staub- und Pulverwolken brachen dann die Panzer hervor, die braunen Infanterierudel gleich dahinter, und dann gab es kein Halten mehr. Weg, ab nach hinten, Kanonen sprengen – rette sich, wer kann! Dazu oben in Massen die russischen Schlachter.“24
In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai entern einzelne Landser vorbeirollende Panzer, um oben aufsitzend mitzufahren. Entsetzt erkennen die Infanteristen dann aber rote Sterne an den Türmen. Sofort springen sie wieder herunter und flüchten sich schließlich doch lieber zu Fuß nach Westen. Laut Hartmann wirkt der verlorene Haufen wie „ein jammervoll zerfledderter, entnervter Verein, den Panzerschreck in den Knochen, verkommener Lanseradel, hin- und hergeschubst als Lückenbüßer, ohne Kanonen und Handgranaten, und wie zum Hohn bestückt mit russischen Beuteflinten.“
Noch brenzliger entwickelt sich die Lage am Südflügel der 6. Armee. General der Panzertruppe Friedrich Paulus sieht seine Offensivplanungen jäh über den Haufen geworfen. Statt selbst anzugreifen, muss sich der im Felde noch unerfahrene Kommandeur mit seinem Großverband dem überwältigenden Ansturm von zwei sowjetischen Armeen, der 6. und 57., erwehren. Nicht weniger als 26 Schützen- und 18 Kavalleriedivisionen sowie 14 Panzerbrigaden überrennen die sechs Divisionen des deutschen VIII. und rumänischen VI. Korps. Insgesamt führen die Russen 640.000 Mann, 1.200 Panzer und über 900 Flugzeuge in die große Frühjahrsschlacht um Charkow. Werden Timoschenkos Greifer nicht schleunigst angepackt, sind alle Planungen für den „Fall Blau“ obsolet.
Erst 20 Kilometer vor Charkow gelingt es General Paulus, mit der 3. und 23. Panzerdivision den ungestümen Vorwärtsdrang der russischen Nordzange durch Flankenstöße zu lähmen. Das infanteristische Rückgrat bildet die 71. Divison. Generalmajor Hartmanns Großverband ist im Herbst 1941, nach der Kesselschlacht um Kiew und den hohen Verlusten, von der Ostfront abgezogen und zur Wiederauffrischung nach Belgien verlegt worden. Der zweite Russlandeinsatz sieht die voll kampfkräftige Infanteriedivision in der Schlacht um Charkow.
Leutnant Wigand Wüster25 von der 10. Batterie/Artillerieregiment 171 erlebt die wechselvollen Gefechte. Eine seiner schweren Feldhaubitzen, Kaliber 15 Zentimeter, fällt durch Rohrkrepierer aus. Der starke Detonationsdruck hat die beiden Kanoniere auf der Lafette betäubt, Gefäße in ihrem Gesicht sind geplatzt. Aber die erlittenen Verletzungen erweisen sich als halb so schlimm. Lebensgefährlich ist dagegen die starke sowjetische Artillerie, laut Leutnant Wüsters Bericht liegt die Hauptkampflinie (HKL) „unter ständigem schweren Beschuss“. Zu allem Überfluss greifen auch noch Panzer plus Begleitinfanterie an. Im direkten Richten nehmen die Artilleristen mit ihren schweren Feldhaubitzen von einer Vorderhangstellung aus die anrollenden T 34 unter Feuer. Distanz 1.500 Meter. Dann rollt die Kanonade über das wellige Gelände. Und es gelingt tatsächlich, Wirkung zu erzielen, obwohl die Haubitzen nicht sonderlich für den Panzerabwehrkampf geeignet sind. Der erste Volltreffer reißt einem T 34 gleich den ganzen Turm herunter. An anderer Stelle genügt der Naheinschlag einer 15-Zentimeter-Granate, um einen Tank bewegungsunfähig auf die Seite zu werfen oder ihm die Ketten abzureißen. Fünf Russenpanzer kann die 10. Batterie schließlich vernichten, dann ist der Feindangriff abgeschlagen.
Hans Jürgen Hartmann von der 294. Infanteriedivision beschreibt die gefallenen Gegner in seinem Gefechtsabschnitt: „Die meisten Toten waren Mongolen mit gelben, vor Schmerz und Angst und Hitze grässlich verzerrten Gesichtern, die uns mit starren Augen und bleckenden Zähnen immer von neuem erschreckten.“26
Mehr Biss als die Nord- zeigt Timoschenkos noch stärkere Südzange. An dieser Stelle stoßen die sowjetischen Verbände bis zum 16. Mai scheinbar unaufhaltsam vor. Aber mit jedem Kilometer Raum, den die Stoßtruppen nach Westen gewinnen, verlängert sich auch ihre Südflanke, bietet selbst Angriffsfläche ...
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Die große Frage in den deutschen Stäben lautet: Soll die Armeegruppe Kleist ungeachtet der überraschenden Lageentwicklung am Fridericus-Plan festhalten? Können die 1. Panzer- und die 17. Armee immer noch nach Norden antreten, um den russischen Frontvorsprung bei Isjum abzuschneiden, und zwar allein? Denn die eingetretene Krise östlich Charkow erlaubt keine entscheidende Mitwirkung der weiterhin in schweren Abwehrkämpfen gebundenen 6. Armee mehr. Bock zögert, während Halder zur einarmigen Zange drängt, die Hitler schließlich billigt.
Am 17. Mai holt die Armeegruppe Kleist zur Konteroffensive aus, um Timoschenkos tiefe Südflanke an der Basis zu packen. Starke Luftunterstützung liefert das IV. Fliegerkorps. Heiß brennt die Sonne vom blauen Himmel. Rasch steigen die Temperaturen auf 30 Grad. Drückende Schwüle. In die Hitze des Tages platzt der Angriff des III. Panzerkorps unter General der Kavallerie Mackensen. Die völlig überraschten Truppen der 9. und 57. Sowjetarmee werden geworfen. Der Gefechtsbericht der 257. Infanteriedivision verzeichnet schwere Kämpfe. Das Regiment 466 vernichtet ein russisches Bataillon – dabei fallen 450 Rotarmisten. Mackensens gepanzerte Fäuste, die 14. und 16. Panzerdivision, schlagen mit brutaler Wucht zu. Die Einbrüche werden schnell zu Durchbrüchen erweitert.
Am 22. Mai erreicht die 14. Panzerdivision den Schlüsselpunkt Bairak am Donez, während die 44. Infanteriedivision, die Paulus 6. Armee doch noch zur Unterstützung der Gruppe Kleist freimachen kann, das Nordufer forciert. Schließlich gewinnt auch die 16. Panzerdivision bis zum 23. Mai den Strom bei Andrejewka. Damit sind die 6. und 57. Sowjetarmee eingeschlossen. Eine dramatische Wende der Schlacht! Timoschenkos Präventivschlag hat sich tatsächlich als verhängnisvoller Stich ins Wespennest erwiesen.
Um den Ausbruch der eingekesselten Sowjets zu verhindern, trifft der Kommandierende des III. Panzerkorps, General Mackensen, geschickte Gegenmaßnahmen. Tagelang toben schwerste Ausbruchskämpfe südlich von Charkow. Nachts, im Schein von Magnesium-Leuchtraketen, werden die ohne Rücksicht auf Verluste unter „Geschrei und Gejohle“ stürmenden Eingeschlossenen, vielfach „sinnlos betrunken“, massenhaft niedergemetzelt. Aber auch die deutsche 1. Gebirgsdivision, die im Zentrum der Ausbruchskämpfe steht und nach den gespentischen Gefechten 8.000 tote Russen vor ihrer Front zählen soll, verliert „auf dieser Straße des Todes“, wie es in einem dramatischen Gefechtsbericht von Generalleutnant Lanz27 heißt, zahlreiche Männer. Seit dem 17. Mai verzeichnet der Großverband nach späteren Angaben des Kommandeurs 431 Gefallene und über 1.300 Verwundete.28 Der Kommandeur, der an zwei Weltkriegen teilgenommen hat, kann sich nach dem Krieg an „kein vergleichbares Bild erinnern, wie damals an der Bereka. Unsere Verluste waren gewiss bitter, wenn auch nur ein kleiner Bruchteil von denen der Sowjets.“
Der Soldat Jakob Geimer29 schreibt am 2. Juni an seine Frau: „Dann geht das große Kesseltreiben los, und das Scheibenschießen auch. Nur keine Bange Jäb, was vor die Flinte kommt, wird umgelegt, den Hunden treiben wir‘s aus. So etwas stures gibt es nicht wieder, meinst Du die kämen aus ihren Löchern raus, was bleibt da anderes übrig, als Handgranate hinein, oder ne Kugel durch den Schädel. Was kann man da anderes machen, unsere Zeit ist kostbar, lange gefackelt wird nicht. Zäh und verbissen sind die Burschen, nützt aber nichts, wir sind besser, die Infanterie muß ja das Rennen machen.“
Und von Bocks Verbände gewinnen diese Runde. Bis zum 28. Mai meldet der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd 22 russische Schützen-, sieben Kavalleriedivisionen, 14 Panzer- und mechanisierte Brigaden als zerschlagen. 239.000 Rotarmisten werden gefangen genommen. Dazu kommen schwerste blutige Verluste, vermutlich rund 70.000 Tote, darunter der stellvertretende Oberbefehlshaber der Südwestfront, Generalmajor Bobkin, sowie die Generalleutnante Gorodnjanskij und Podlas, Führer der 6. beziehungsweise 57. Armee, die mitsamt ihren Stabsoffizieren gefallen sind. An Material büßt die Rote Armee 1.250 Panzer, 540 Flugzeuge und 2.026 Geschütze ein. Die Deutschen erleiden Verluste in Höhe von rund 20.000 Mann. Demnach ist von 5.000 Gefallenen für die an der Kesselschlacht bei Charkow beteiligten Armeen auszugehen. Ein hoher Preis für die Heeresgruppe Süd angesichts der kurz bevorstehenden großen Sommeroffensive!
Der sowjetische Versuch, General der Panzertruppe Paulus 6. Armee einzukesseln, ist katastrophal gescheitert.