+++
„In einem Bunker, 2 km nordostwärts des »Stalin«, der sich zwei Tage hinter den deutschen Linien gehalten hatte, mußte die Besatzung buchstäblich einzeln erschlagen werden.“
Aus einem Gefechtsbericht des Infanterieregiments 47, das im Verband der 22. Division im Juni 1942 auf der Krim das Fort Stalin im Vorfeld der Seefestung Sewastopol stürmt.
*
Ausgangslage auf der Krim
Alea iacta est – die Würfel sind gefallen. Mit der Führerweisung Nr. 41 steht fest, dass die großen militärischen Entscheidungen an der russischen Südfront ausgefochten werden. Damit rückt zunächst ein Brennpunkt ins Blickfeld des Geschehens, an dem sich die Deutschen seit Monaten blutige Köpfe holen: die Krim. Die Festung Sewastopol an der Südwestspitze ist trotz Belagerung unbezwungen geblieben, die Halbinsel Kertsch im Osten gar von der Roten Armee Ende Dezember 1941 zurückerobert worden. Für die Sowjets manifestiert sich die geostrategische Bedeutung der Krim in dreierlei Hinsicht, nämlich als:
1. Stützpunkt der Schwarzmeerflotte;
2. Bedrohung der deutschen Südflanke;
3. „Flugzeugträger“ gegen die rumänischen Ölquellen.
Den Großteil des enormen Treibstoffbedarfs für seine Kriegsmaschine bezieht das Reich aus dem Fördergebiet im Raum Ploesti. Für die Wehrmacht bildet die Krim das natürliche Sprungbrett zum Kaukasus, nämlich über die Straße von Kertsch. Jene Meerenge, die an ihrer schmalsten Stelle nur vier Kilometer breit ist. Dort führt die Straße von Kertsch hinüber zur Taman-Halbinsel, ins Vorfeld des Kaukasus.
Die deutschen Streitkräfte auf der Krim führt Generaloberst von Manstein. Der geniale operative Kopf muss mit seiner 11. Armee eine harte Nuss knacken. Es gilt, einen im Verhältnis 3:1 überlegenen Gegner, noch dazu verschanzt in stärksten Befestigungen, aus dem Feld zu schlagen. Aufgrund seiner limitierten Kräfte bleibt Manstein von Anfang an nur die Möglichkeit, beide Ziele, die Eroberung von Kertsch und Sewastopol, nacheinander anzugehen, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Um die Seefestung mit aller Macht angreifen zu können, muss zuerst Rückenfreiheit gewonnen werden. Vor allem aber ist Eile geboten. Die Operationen auf der Krim müssen zu einer Entscheidung gebracht sein, bevor die deutsche Südfront nördlich des Asowschen Meeres zum Hauptschlag ausholt. Nicht zuletzt deshalb, weil die 1942 bereits stark limitierten Kräfte der Luftwaffe nur ausreichen, um das Heer an einem Teilabschnitt der Heeresgruppe Süd wirksam zu unterstützen.
Aus dieser strategisch brenzligen Lage entwickelt Manstein seinen Schlachtplan. Den Auftakt soll die Operation „Trappenjagd“ bilden. Der Deckname bezeichnet den deutschen Angriffsplan zur Vernichtung der sowjetischen Deckungskräfte auf Kertsch und anschließenden Eroberung der Halbinsel. Als Voraussetzung werden die Luftstreitkräfte schwerpunktmäßig für Mansteins Großoffensive zusammengezogen. Das VIII. Fliegerkorps unter Generaloberst Wolfram von Richthofen soll mit seinen 460 Maschinen das schützende Dach für die Angreifer bilden und Vernichtung über die Verteidiger auf Kertsch bringen.
Mansteins Plan sieht vor, im Norden zu täuschen und im Süden zu schlagen. Eine richtige Beurteilung der eigenen Möglichkeiten und ebenso korrekte Einschätzung der feindlichen Absichten. Denn rund zwei Drittel der sowjetischen Streitkräfte stehen im Norden der kaum 20 Kilometer schmalen Parpatsch-Stellung, die von drei Armeen der Krimfront, der 47., 51. und 44., verteidigt sowie vom Asowschen Meer im Norden und Schwarzem Meer im Süden begrenzt wird. Genau hier erwartet Generalleutnant Koslow den Angriff von Mansteins 11. Armee plus rumänischen Unterstützungstruppen. Ein Stoß in die Flanke der nördlichen Ausbuchtung der Parpatsch-Stellung scheint die nahe liegende Option zu sein. So würden es die Russen selbst gemacht haben. Aber Manstein denkt überhaupt nicht daran, ausgerechnet an der Stelle des stärksten Widerstandes, ebendort wo ihn der Gegner erwartet, anzugreifen. Noch dazu mit zahlenmäßig unterlegenen Kräften. Nein, der überragende operative Kopf des Zweiten Weltkriegs, richtet seinen scharfen Blick nach Süden. Zwar muss der Kampf hier mehr oder minder frontal geführt werden, aber dafür gegen einen wesentlich schwächeren Feind. Schließlich disloziert das Oberkommando der Krimfront an diesem Abschnitt der Parpatsch-Stellung nur ein Drittel seiner Streitmacht. Damit hat Koslow bereits den ersten falschen Zug gemacht, noch bevor der erste Schuss der Operation „Trappenjagd“ gefallen ist.
Die Verteidiger haben sich in den vorangegangenen Wochen hinter einem zehn Meter breiten und fünf Meter tiefen Panzergraben verschanzt. Dazu kommen starke Feldbefestigungen. Als angriffsführenden Großverband bestimmt Manstein das XXX. Armeekorps unter Generalleutnant Fretter-Pico. Der Kommandierende befehligt über die 28. leichte, 50. und 132. Infanteriedivision. Den Durchbruch in die Tiefe des feindlichen Verteidigungssystems soll schließlich die 22. Panzerdivision unter Generalmajor Wilhelm erzwingen. Die Weichen für die Eröffnung der Schlacht um Kertsch sind gestellt. Und wenn die Halbinsel im Rücken der Krim fällt, wird der Endkampf um Sewastopol unweigerlich folgen. Ein hoher Einsatz für die Herren Strategen. Den Preis zahlen Iwan und Fritz auf dem Schlachtfeld.
Operation „Trappenjagd“ – der deutsche Angriff auf Kertsch
Die Operation „Trappenjagd“ beginnt am 8. Mai um 3 Uhr 30. Eine Batterie der Sturmgeschützabteilung 1976 soll zusammen mit dem II.Bataillon/Infanterieregiment 121 der 50. Division den Durchbruch erzwingen. Kurzes, aber heftiges Artillerie- und Werferfeuer leitet den Angriff ein. Im Dämmerlicht des frühen Morgens rasselt das Batterieführer-Geschütz auf eine Minensperre. Zwei der Sprengladungen detonieren unter dem Kampfwagen. Als der Chef vom fahruntüchtigen Sturmgeschütz klettert, kommt eine Handgranate geflogen. Die Explosion reißt dem Batterieführer das linke Bein am Oberschenkel ab. Als der Unteroffizier Drohne ausbootet, knallt eine Panzerabwehrkanone (Pak). Die rasante Granate zischt dem Deutschen in den Rücken. Für ihn kommt jede Hilfe zu spät. Aber den schwerverwundeten Chef will der Unterwachtmeister Burde unbedingt aus dem Feuer tragen. Da trifft ihn das glühende Eisen eines Granatsplitters. Der messerscharfe Zacken reißt seinen Unterleib auf. Schließlich knallt noch ein Panzerbüchsentreffer aus nächster Nähe. Das Geschoss durchschlägt die Panzerung des Kampfwagens. Dabei werden der Wachtmeister Reydt tödlich und der Gefreite Andree, der als Fahrer fungiert, am Arm verwundet. Das kleine, schlimme Schicksal einer Sturmgeschützbesatzung gleich zu Beginn der Großoffensive. Dennoch wird bis zum Abend das Tagesziel der Batterie, die Höhe 63,8, genommen.
Der Unteroffizier Josef Wimmer7 von der 50. Infanteriedivision berichtet über das gefürchtete deutsche Nebelwerferfeuer: „Allein schon die psychologische Wirkung dieser so grässlich heulenden Geschosse muss für den Gegener schrecklich gewesen sein. Die Einschläge liegen gut, und der Erdboden bebte unter unserer Brust.“
Mit dem ersten Artilleriefeuerschlag stürmen der gebürtige Oberschlesier und seine Kameraden von der 3. Kompanie/Pionier-Bataillon 71 Richtung Niemandsland, um der nachfolgenden Infanterie Gassen durch Stacheldrahtverhaue und andere Sperren zu sprengen. Inmitten des Schlachtenlärms sieht Wimmer „zwischen den aufspritzenden Erdfontänen plötzlich in nicht allzu weiter Entfernung einen Russen, der mit seinem Gewehr in meine Richtung zielte – und schoss. Fast gleichzeitig spürte ich einen stechenden Schmerz im rechten Oberarm.“ Der Pionier-Unteroffzier hat Glück im Unglück, es ist nur ein „Durchschuss“. Auf Fortune und Wagemut baut auch der Oberbefehlshaber der 11. Armee seinen Schlachtplan zur Eroberung Kertschs auf.
Um den Hauptstoß im Süden der Parpatsch-Stellung nicht rein frontal zu führen, hat Manstein eine besondere Überraschung ausgeheckt. Ein Bataillon des Infanterieregiments 436 der bayerischen 132. Division fährt mit Sturmbooten vom Schwarzen Meer her in den Panzergraben. Mit diesem Manöver haben die Verteidiger nicht gerechnet! Die taktische Überraschung glückt vollkommen.
Am nächsten Tag rollt die 22. Panzerdivision in die geschlagene Bresche. Schwerer als der Feinwiderstand macht den Angreifern ein Gewitter zu schaffen. Doch der Durchbruch gelingt. Die 44. Armee wird geworfen. In der Folge schwenken die motorisierten Verbände nach Norden, in den Rücken der Verteidiger, dem Dauerregen und morastigen Gelände zum Trotz. Damit sind zehn Sowjetdivisionen eingeschlossen.