Die Prophezeiung
Einst wird kommen die Zeit,
da Elfen erstarren in Ewigkeit.
Finsternis droht von vielen Seiten,
es gilt neue Wege zu beschreiten.
Die weise Frau Seiten in Leder verwahrt,
Mysterien nur zögerlich offenbart.
Bringt die Krieger des Lichts zurück,
damit sie erhalten Fanreas Glück.
Zwei Menschenkinder – aus einem Mund –
sollen brechen den Bann, wenn Jaron ist rund.
Das Ende der Kindheit,
ist der Tausch für die Blindheit.
Gewonnen wird mit Kampf und Schwert,
nicht alle überleben unversehrt.
Der Drachenreiter wird erweckt,
Geheimnisse bleiben noch versteckt.
Prolog
In Fanrea warf John das letzte Fell über die selbstgebaute Schwitzhütte aus gebogenen Weidenstäben. Der junge Schamane vom Stamm der Lakota betrat die provisorische Hütte, zog die Mokassins aus und ließ sich im Schneidersitz nieder. Vor ihm lag ein Stapel erhitzter, rotglühender Steine, über die er mit fließenden Bewegungen immer wieder Wasser goss. Heißer Dampf, vermischt mit dem Duft von Sweetgras und Salbei, füllte den dunklen Raum.
John strich sein glänzend schwarzes Haar nach hinten, sodass es wie flüssiges Öl über die Schultern floss. Bei jeder Bewegung des nackten Oberkörpers zeichneten sich Muskeln unter der rötlich schimmernden Haut ab. Schweißtropfen glitzerten darauf und flossen in winzigen Rinnsalen hinunter. Johns Wildlederhose klebte an seinen Oberschenkeln. Um den Hals hing ein Lederband mit einem grau gemaserten Flusskiesel, der das Licht der heißen Steine reflektierte. Der Kiesel von der Größe einer Kastanie schmiegte sich in die Kuhle des Schlüsselbeins und erwärmte sich leicht.
Die Augen hielt John geschlossen. Still und versunken wartete er auf Visionen, die sein Krafttier, ein Bär, ihm im Traum prophezeit hatte. Lange Zeit geschah nichts, aber der Lakota ließ sich nicht beirren. Er atmete gleichmäßig ein und aus, versuchte, die Gedanken in einen ruhigen Fluss zu bringen, und sich nur auf den Atem zu konzentrieren.
Auf einmal entstanden Bilder in Johns Kopf: Zwei Teenager, etwas jünger als er selbst, kamen auf ihn zu. Ein Junge mit blondem Strubbelhaar und ein Mädchen mit langen, braunen Locken. Beide reckten die Hände, griffen Schutz suchend nach John. Krallenfinger rissen an den Jugendlichen, zerrten sie schließlich in einen undurchsichtigen Spiralnebel. Ein beklemmendes Gefühl des Verlustes legte sich dumpf auf das Herz des jungen Indianers. Gleichzeitig fiel ihm das Atmen plötzlich schwer. Er keuchte. Der Flusskiesel strahlte enorme Hitze aus, sodass beinahe die Haut verbrannte.
Ein Drache flackerte in Johns Vision auf, verblasste jedoch langsam wieder. Schon sprangen Wölfe mit feurigen Augen durch seine Gedanken und lösten den Drachen ab. Erneut veränderte sich das Geschehen. Eine wunderschöne schwarzhaarige Frau erschien, deren eiskalte Aura John frösteln ließ. Wutglühende Augen durchbohrten seine Seele. Das Gesicht der Schönen zerschmolz zu einer Fratze, die von Rauchschlieren verdeckt wurde. In den Händen hielt die Frau ein uraltes, staubiges Buch. Seiten blätterten auf, magische Zeichen wurden offenbart. Lodernde Flammen verschlangen das Buch mitsamt der Frau. Zum Feuer kamen Wasser, Wind und Erde hinzu, umwanden einander, bis sie sich zu einer gewaltigen Säule auftürmten. Die vier Elemente rotierten wild umeinander.
Aus diesem Wirbel trat eine lächelnde Elfe, deren Gesichtszüge unerwartet erstarrten. Ihr Körper veränderte die Form, wurde durchsichtig und hart, schillerte wie Kristall. Mit einem lauten Knall zersprang der Leib der Elfe in unzählige Stücke, während ihr entsetzter Schrei in Johns Bewusstsein widerhallte. Ein brennender Schmerz durchbohrte seine Wange. Als der Lakota an die Wunde fasste, fühlte er frisches Blut an der Hand, einer der Kristallsplitter hatte ihn verletzt. Wie war das möglich?
So abrupt, wie sie begonnen hatten, endeten Johns Visionen. Erschöpft öffnete er die Augen und wischte Schweiß aus dem Gesicht. Er bemerkte braune Erdkrümel in der Handfläche, betrachtete diese verwundert und ließ sie anschließend zu Boden rieseln.
Viele Male schon hatte er Schwitzhüttenrituale abgehalten, doch noch nie eine Wunde davongetragen. Irritiert griff der Indianer nach dem funkelnden Kristallsplitter, den er in einen Lederbeutel steckte.
Durch das lange Stillsitzen verlangten die Muskeln nach Bewegung. John dehnte und streckte sich, machte anschließend ein paar Liegestütze. Tief in Gedanken versunken goss er kaltes Wasser über den Körper, zog sein Lederhemd über und verließ die Hütte.
Ein ganz normaler Tag
Es war ein wolkenloser Morgen, der von den Verlockungen der baldigen Sommerferien flüsterte. Die lilafarbenen Blüten des Lavendels sowie die prachtvollen Rosen verbreiteten ihren süßlichen Duft, während der Rittersporn mit dem Blau des Himmels wetteiferte. Zahlreiche Bienen summten von Blume zu Blume. Schmetterlinge, die mit ihren farbenprächtigen Flügeln verzauberten, flatterten fröhlich umher.
Das Dorf lag in einer malerischen Landschaft aus Seen, Wäldern und Wiesen, durch die sich Bäche zogen. Die Einwohner dieser Gegend lebten im Einklang mit der Natur, alles ging hier etwas gemächlicher zu. Die Mehrzahl der Häuser war sehr alt und liebevoll gepflegt, die Menschen wohnten schon seit vielen Generationen darin und bildeten eine vertraute Gemeinschaft. Der laute Klang der Kirchenglocke durchbrach die Stille dieses friedlichen Sommermorgens.
Die vierzehnjährige Emma schnippte eine Fluse von ihrer Jeans und band schnell die blauen Chucks zu. Tiefe Augenringe verrieten Schlafmangel, denn seit einiger Zeit wurde sie von schrecklichen Alpträumen gequält. Der Traum der letzten Nacht war besonders beängstigend gewesen: Orientierungslos lief Emma durch einen düsteren Wald, dessen Bäume sich als unheimliche Scherenschnitte gegen den Vollmond abhoben. Dicke Wurzeln brachten das Mädchen zum Stolpern, während die Locken in langen Ästen hängenblieben.
Plötzlich durchbrach bedrohliches Heulen die Dunkelheit, gleichzeitig sank die Temperatur abrupt. Kälte überlief Emma wie flüssig gewordenes Grauen und ihr Herz setzte vor Angst einen Schlag aus. Unvermittelt tauchten haarige Bestien auf, die eine Treibjagd auf das Mädchen eröffneten. Wilde Wölfe mit rotglühenden Augen hetzten durch die Nacht, sprangen es schließlich brutal an, trieben es mit gefletschten Zähnen vor sich her. Der heiße Atem der Tiere keuchte so dicht am Gesicht, dass Emma den fauligen Aasgeruch zu riechen glaubte. Es ekelte sie dermaßen, dass sie zu würgen begann.
Schließlich war Emma durch ihre eigenen, panischen Schreie schweißgebadet aufgewacht. Vor lauter Angst, dass der widerliche Albtraum zurückkehrte, lag sie grübelnd wach. Als der Morgen langsam anbrach, schlief sie traurig, mit rot geweinten Augen ein.
Nun starrte Emma trübsinnig in den Spiegel. Während sie ihr Haar kämmte, stieß sie unerwartet heftig hervor: »Ich will nicht mehr