Bärenjäger. Thomas de Bur. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas de Bur
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742723147
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sich hin. »Ja und nein«, antwortete ihre Mutter nach kurzer Überlegung. »Bei Pflanzen und Tieren ist es etwas anders als bei Menschen. Es gibt viele Naturschutzgesetze in denen steht, dass man der Natur keinen Schaden zufügen darf. Unter anderem die Tierschutzgesetze, die die Tiere schützen. Aber die Natur wird auch von den Menschen genutzt. Um es warm zu haben oder um Essen kochen zu können, muss der Mensch einige Bäume fällen. In dem Fall hat der einzelne Baum zwar einen Schaden, doch zum Wohle des Menschen. Wenn an Stelle des gefällten Baumes ein Neuer gepflanzt wird, macht man den Schaden ja auch zum Teil wieder gut. Es muss im Einzelfall abgewogen werden, was erlaubt ist und was nicht. Denk an das Jedermannsrecht hier in Schweden. Das Gesetz besagt, dass jeder die Natur nutzen darf, aber man darf keinen Schaden verursachen. Wann eine Nutzung zu weit geht und damit verboten wäre, ist jedoch nicht genau festgelegt.« Die Mutter lächelte ihre Tochter an. »Deine Frage ist nicht einfach zu beantworten.« Lena grübelte sichtbar über die Antworten nach, jedoch fragte sie nicht weiter. Nachdem Lena und Johan geholfen hatten den Frühstückstisch abzuräumen, packte Johan seinen Rucksack, um zu Stellan aufzubrechen. Er wusste nicht so recht, was er brauchen würde. Sein Messer, eine Regenjacke, einen Apfel, einen Stift und einen Schreibblock. Mehr fiel ihm auf Anhieb nicht ein. Also verabschiedete er sich und lief los. Johan war neugierig was ihn erwarten würde. Er würde jetzt ein Jäger werden. Sein Weg durch den Wald am Fluss entlang ging schnell. Erst als er die Wiese erreichte, die vor der Hütte von Stellan lag, hörte er auf zu laufen und ging verschnaufend seinem ersten Tag bei Stellan entgegen. Stellan saß auf der Bank vor der Hütte und schien auf ihn zu warten. Er hatte die traditionelle Tracht der Samen angezogen. Von weitem leuchtete Johan das kräftige Blau des Kolt, einem Kittel ähnlichen Oberteil aus schwerer Wolle mit roten Schößchen auf Schultern und Brust, an. Der ebenfalls blau-rote Hut der vier Winde lag neben Stellan auf der Bank. Man nennt diesen Hut so, weil er vier Zipfel hat, von denen jeder in eine andere Himmelsrichtung zeigt. Johan musste an die Lederschuhe der Samen mit der hochgezogenen Spitze und den bunten Schnürsenkeln denken. Ob Stellan die auch angezogen hatte? Er lächelte in sich hinein. Wenn Stellan sich heute in seine Tracht gekleidet hatte, musste dieser Tag auch für ihn etwas Besonderes sein. Als Johan auf der Wiese näher kam, erhob sich Stellan und setzte seinen Hut auf. Johan begrüßte ihn höflich. »Hallo Johan«, erwiderte der alte Same freundlich. »Komm setz dich zu mir. Möchtest du etwas trinken?« »Ja gerne«, antwortete Johan und schielte dabei auf Stellans Füße, an denen tatsächlich die witzigen Schuhe glänzten. Stellan erhob sich, ging kurz in die Hütte und holte zwei Holzbecher heraus. Die füllte er neben der Hütte unter dem Eisenrohr mit frischem, kaltem Wasser aus dem Berg. Er reichte Johan einen Becher und nahm einen Schluck aus seinem: »Vor vielen Jahren saß hier an dieser Stelle dein Vater. Auch dein Opa saß gemeinsam mit meinem Vater hier auf der Bank. Die Männer unserer Familien verbinden eine sehr lange Freundschaft und die Verbundenheit mit dem Wald. Jeder lernte vom Anderen und man half sich jederzeit. Die Aufgabe meiner Familie war es immer, die alten überlieferten Kenntnisse über die Natur und das Jagen weiter zu geben. Nun bist du bei mir und führst die Tradition fort.« »Ich wünsche mir sehr, ein Jäger zu werden«, unterbrach Johan den alten Mann. Stellan lächelte. »Warum willst du denn ein Jäger werden?« Johan überlegte, was er antworten sollte. Stellan bemerkte, dass Johan unsicher wurde und wartete deswegen nicht auf eine Antwort. »Es gibt vier verschiedene Arten von Jägern. Einige Jäger jagen aus Lust. Andere jagen aus Gier. Auch die Angst lässt viele Menschen jagen. Die vierte Art von Jägern jagt aus Notwendigkeit.« Stellan machte eine kleine Pause. »Früher haben die Menschen gejagt, um ihre Familien zu ernähren. Wir Samen haben über Jahrhunderte von der Jagd und vom Fischen leben müssen. Heute hat das Jagen für die Ernährung eine geringe Bedeutung. Man könnte von der Jagd allein nicht mehr überleben. Heute reguliert der Mensch die Tierbestände, weil durch die Jagd auf Raubtiere das Gleichgewicht gestört wurde und sich einige Tierarten stärker vermehren als gewünscht. Das führt wiederum zu Schäden in der Natur, deswegen muss man heutzutage jagen und ausgleichen.« Stellan blickte Johan direkt in die Augen. »Einem Jäger sollte bewusst sein, warum er jagen geht.« Stellan nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserbecher. »Ein erfolgreicher Jäger versteht die Natur und respektiert sie. Er ist ein Teil der Natur. Er weiß, dass jede Handlung eine Wirkung hat. Manchmal ist sie gut, manchmal ist sie schlecht für die Zukunft.« Johan nickte zustimmend. Stellan schaute Johan ernst an, dann stand er auf. »Komm, ich will dir etwas zeigen.« Johan erhob sich neugierig und folgte dem alten Mann in die Hütte. Als Johan durch die dicke Eichentür in den Raum trat, mussten sich seine Augen erst einmal an das spärliche Licht gewöhnen. Vor ihm, in der Mitte des Raumes, stand ein Holztisch mit zwei Stühlen. Dahinter, an der Wand, war ein Herd, der gleichzeitig auch der Ofen war. Die Hütte bestand anscheinend aus drei Zimmern. An der hinteren Wand registrierte er links und rechts vom Herd je eine Tür. An allen Wänden, außer der Hinteren, lehnten Regale, in denen handgefertigte Holzgegenstände aufgereiht waren. Teller, Becher, kleine und große Schüsseln und vieles mehr. Auf dem Dielenboden standen zwei große Holzkisten mit Eisenbeschlägen. Plötzlich bemerkte Johan sie. Auf den ersten Blick hatte er sie gar nicht wahrgenommen. Überall hockten sie und alle glotzten ihn an. Trolle, Gnome, Kobolde und Wichtel. Sie lümmelten in den Ecken, auf dem Herd und in den Regalen, einer neben dem anderen. Ein Troll hing keck an einem Tischbein und winkte. Johan war platt. Mit offenen Mund und weit aufgerissenen Augen stand er in der Hütte und guckte sich erstaunt um. Stellan hatte den Blick von Johan gesehen und lächelte. »Ja, es werden immer mehr. Manchmal sitzt einer dazwischen, der ist auch für mich neu.« Stellan ging zu einer Holzkiste, schob einen Eisenriegel zur Seite und hob den Deckel. Die Kiste war voll mit alten, in Leder gebundenen Büchern. Stellan entnahm eines und legte es auf den Tisch. »Wenn man das Ganze verstehen will, muss man die versteckten Wunder sehen können«, fing Stellan an und legte seine flache Hand auf das Buch. »Viele Jahrhunderte lebt meine Familie schon im Wald. Mein Ururgroßvater hat angefangen, diese Bücher zu schreiben und reichte sie an seinen Sohn weiter. Der schrieb ebenfalls und gab die Bücher wiederum seinem Sohn. Vor etwa fünfzig Jahren habe ich die Bücher von meinem Vater übernommen. Seitdem schreibe ich über die geheimen Wunder der Natur.« Stellan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du hast schon oft gefühlt, dass dir Dinge auffallen, die andere anscheinend nicht wahrnehmen können, nicht wahr Johan?« Stellan lächelte wissend. Johan war sprachlos.

      8

      Der alte Mann blickte Johan mit glänzenden Augen an. »Ich werde dir beibringen, was ich in meinem Leben gelernt habe. Du wirst alles über Pflanzen und Tiere kennen lernen. Ich werde dir zeigen, welchen Nutzen sie besitzen und wie viel Gutes und Geheimnisvolles in ihnen versteckt ist. Du wirst die Tiere verstehen und wie alles zusammen hängt. Dein Körper wird üben mit der Natur eins zu werden und deine Sinne schärfen wir für die unglaublichen Wunder, die überall zu finden sind. Wir werden gemeinsam den kleinen Wölfen zuschauen, wie sie die Lemminge fangen und wir begleiten die Lachse den Fluss hinauf. Wir folgen der Sonne und dem Wind. Mit den Rentieren erleben wir die acht Jahreszeiten und wenn die Elche rülpsen, sammeln wir Kräuter für den Winter.« Stellans Augen wanderten wehmütig zur Tür hinaus. »Und eines Tages wirst du dem alten Mann mit dem Pelzmantel begegnen.« Johan staunte Stellan mit großen Augen an. »Wer ist der alte Mann mit dem Pelzmantel? Wo wohnt er?« Aber Stellan gab ihm keine Antwort, erhob sich und legte das alte Buch in die Holzkiste zurück. Dann wandte er sich zur Tür. »Komm, wir wollen in den Wald gehen und lernen. Aus den Büchern werde ich dir ab morgen vorlesen.« Johan warf einen letzten Blick auf die kleinen Wesen um ihn herum. Einige standen in Grüppchen beieinander und tuschelten aufgeregt. Ein großer Wichtel neben der Tür nickte ihm bewundernd mit dem Kopf zu und auf der zweiten Holzkiste hüpften ein paar Kinderkobolde mit den Händen klatschend im Kreis. In Johans Kopf drehte sich alles, einen klaren Gedanken bekam er nicht zu fassen. Still, durcheinander und staunend folgte er Stellan. Seit diesem Tag war Johan nach der Schule immer bei ihm. Sie durchstreiften gemeinsam die Wälder. Der alte Mann wurde nicht müde, ihm jede kleine Pflanze, jeden Pilz und jedes Tier zu erklären. Jeden Tag las Stellan aus den alten Büchern vor. Jeden Tag hörte Johan von neuen, unbekannten Wundern der Natur. An den Wochenenden pirschten sie schon früh morgens an den Fluss und beobachteten die scheuen Besucher, die im Schutz des Nebels ans Ufer schlichen. In den Sümpfen lernte Johan die unscheinbaren Zeichen, die auf Gefahr oder Sicherheit hinweisen und in den Wipfeln der ältesten Kiefern bewunderte er die Geburt der schönsten Falter und Käfer. Einmal verfolgten Johan und Stellan einen großen Vielfraß, der