Stimme schreien: »Verdammt, lass mich los. Ich kann das alleine.« Johan beobachtete durch die Zugfenster, wie sich ein Mädchen in seinem Alter anscheinend heftig gegen einen Schaffner wehrte. Johan lachte kurz, wandte sich dann aber wieder ab, um den Bahnsteig abzusuchen. Gleich würde die Enkelin von Stellan sicher irgendwo zu sehen sein. In diesem Moment rief Stellan schon: »Kim! Hallo Kim! Hier bin ich«, hob seinen Arm und lief zu dem Wagon, in dem Johan soeben das Mädchen mit dem Schaffner gesehen hatte. »Opa!« kam eine erfreute Antwort. Johan wirbelte herum. Da war doch tatsächlich dieses Mädchen die Enkelin von Stellan. Das Mädchen, das er eben noch mit dem Schaffner streiten gehört hatte, entstieg dem Zug und zog eine große Tasche hinter sich her. Der Tasche folgte der Schaffner. Kaum war das Mädchen auf dem Bahnsteig, ließ sie die Tasche los und sprang Stellan in den Arm. »Stellan, ich freue mich so sehr, dich endlich wieder zu sehen«, rief sie dabei glücklich. Der Schaffner trat an die Beiden heran, nahm sich die Mütze vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Dann räusperte er sich und sprach Stellan an: »Sind sie ein Verwandter der jungen Dame?« Stellan machte ein fragendes Gesicht und antwortete: »Ja, ist irgendetwas nicht in Ordnung?« Kim, die Enkelin, wandte ihren Kopf zum Schaffner und funkelte ihn mit einem warnenden Blick an. Der Schaffner zuckte sichtbar zusammen. »Nein, nein, alles in Ordnung«, beschwichtigte er schnell. »Ich bin froh, dass die junge Dame jetzt an ihrem Ziel angekommen ist.« Ohne eine weitere Erklärung machte er kehrt und stieg brummend in den Zug. Johan sah sich Kim genauer an. Sie war so groß wie er selber, hatte schwarze, lockige Haare und unübersehbare, grüne Augen. Johan hätte gerne gewusst, was der Schaffner wirklich sagen wollte. Er musste schmunzeln. Kim redete derweil wie ein Wasserfall. Sie grüßte von ihrer Mutter, erzählte von der langweiligen Zugfahrt, fragte wie es Stellan geht und schimpfte über die Schule, von der sie, wegen der Operation ihrer Mutter, ein paar Wochen früher Ferien bekommen hatte. Irgendwann, während des Redeschwalles, drehte sich Stellan etwas zu Johan und sagte: »Johan, das ist Kim, meine Enkelin. Kim, das ist Johan.« Dabei zeigte er mit einer Hand in Johans Richtung. Kim blickte kurz zu Johan, murmelte: »Hey«, redete dann allerdings wieder an Stellan gewandt über irgendein Fest, das sie einmal zusammen erlebt hatten. Während Kim schnatterte, stand Johan daneben und guckte ziemlich amüsiert. Plötzlich unterbrach Kim, hakte sich bei Stellan im Arm ein und zog ihn Richtung Ausgang. »Komm, gehen wir«, meinte sie und schwärmte dann weiter über das Fest. Johans Augen wurden größer. Er hob seinen Arm, zeigte auf die Tasche, die immer noch auf dem Bahnsteig lag und wollte etwas stammeln, doch er bekam nur den Mund auf. So stand er ungläubig da und glotzte erst auf die Tasche, dann auf Stellan und Kim, die sich entfernten und dann wieder zurück zur Tasche. Doch es nutzte nichts. Johan seufzte gequält und ging die Tasche holen. Als er sie anhob, entfuhr ihm ein überraschtes: »Puh. Was hat die denn alles in der Tasche?« In diesem Moment drehte sich Kim zu ihm um. »Kommst du?« rief sie ihm fröhlich zu, unterhielt sich dann jedoch weiter mit Stellan. »Ja, ja, ich komme ja schon«, brummte Johan in sich hinein. Mit leicht rötendem Gesicht und wegen der schweren Tasche leicht hinkend, machte sich Johan auf den Weg hinter den Beiden her. Er dachte bei sich: »Na klasse, ein großes Stadtkind«, aber er versuchte schneller zu gehen, um die Beiden einzuholen. Beim Parkplatz war Johan nur noch einen Schritt hinter ihnen. Stellan stellte Kim gleich Johans Vater vor. Sie begrüßte ihn freundlich und machte sogar einen kleinen Knicks, doch dann lenkte der Wagen ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Cool«, entfuhr es ihr anerkennend. »Ein Buckelvolvo von 1960«, sagte Johan stolz. Kim ging um den Wagen herum und musterte ihn genau. »Ein PV 544, Modell 1959, 85 PS, 1580 ccm Hubraum. Ein schönes Blau«, entgegnete sie. Johans Vater lächelte Kim zustimmend an. Johan schwieg, zog aber seine Augenbrauen nach oben. Kim kletterte mit Stellan nach hinten auf den Rücksitz und nachdem alle Türen geschlossen waren, zuckelte der alte Volvo mit seiner Fracht zum Waldhof zurück. Kim erzählte die ganze Fahrt irgendetwas. Stellan hörte zu und gab ab und zu einen Kommentar ab. Johans Vater lenkte schweigsam den Wagen und Johan ergötzte sich ebenso still an der Landschaft. Irgendwann waren sie endlich angekommen. Als sie auf den Hof fuhren, kamen Johans Mutter und Lena sofort zum Auto gelaufen. Kim begrüßte auch sie ganz höflich und alle schlenderten zusammen ins Haus. Der Tisch für die Kaffeetafel war einladend gedeckt. Lena und Johans Mutter hatten sich richtig Mühe gegeben. Auf einem großen, runden Teller lagen die einzelnen Kuchenstücke bunt gemischt. Natürlich sieben verschiedene Sorten, wie es in Schweden üblich ist. Eine dicke Kerze verbreitete heimeliges Licht. Zwei kleine Kinderkobolde mit zotteligen Haaren und großen Ohren hockten auf dem Tisch vor dem Kuchenteller und zählten die Kuchenstücke. Kaum saß die Gesellschaft, stellte Lena ihre erste Frage: »Kim sag mal, gibt es in der Stadt auch so viele Tiere, wie hier bei uns im Wald?« Kim antwortete, ohne zu überlegen: »Ja, ich denke, es gibt sogar mehr. Allerdings bin ich bei den meisten froh, wenn ich sie nicht sehen muss.« Lena machte große Augen. »Wirklich? Was sind das für Tiere?« Kim fing ganz ernst mit dem Aufzählen an: »Wir haben Mäuse, Ratten, Kakerlaken, Silberfische...« Johan nahm gerade einen Schluck Wasser aus seinem Becher, als Kim antwortete. In hohem Bogen prustete er in einem Lachanfall das Wasser über den Tisch. »Johan«, ermahnte ihn seine Mutter streng. »Entschuldigung«, stammelte Johan mit rotem Kopf und stand schnell auf, um ein Tuch zu holen. Kim hielt sich währenddessen schmunzelnd die flache Hand vor die Augen, als ob sie dachte: »wie peinlich.« Johans Vater und Stellan konnten sich auch nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Irgendwann war die Kuchentafel beendet, für die kleinen Trolle blieben leider nur Krümel übrig. Beim Aufstehen bot Johans Vater wegen dem Gepäck an, dass er, soweit es gehen würde, mit dem Auto zu Stellans Hütte fahren würde. Johan könnte dann die Tasche zur Hütte tragen. Johan seufzte unhörbar. »Warum ich?« dachte er, doch er sagte nichts, sondern folgte brav nach draußen. Johans Mutter lud Kim freundlich ein, dass sie jederzeit zum Waldhof kommen könnte und wenn ihr etwas fehlen würde, sollte sie es sagen. Lena ergänzte: »Ja, komm schnell bald wieder«, und verabschiedete sich fröhlich lachend, um Kim herumtanzend. Mit dem Wagen konnte man die Straße das Tal hochfahren, bis man auf Höhe von Stellans Hütte war. Von dort waren es etwa zweihundert Meter erst steil einen Hang hinab, dann über den Holzsteg und das letzte kurze Stück über die Wiese. Johan mühte sich mit der schweren Tasche bergab. Stellan und Kim gingen wieder voraus. Als Johan die Beiden nicht mehr sehen konnte, machte er es sich einfacher. Er stellte die Tasche auf den Boden und zog sie hinter sich her, den Hang hinunter. »Sie wird es überleben«, dachte er bei sich. Das letzte Stück über den Holzsteg und über die Wiese trug er die Tasche dann wieder. Johan stellte sie auf der Bank ab. Kim war in der Zwischenzeit überall gucken gewesen. Sie kam gerade vom Rentiergatter zurück. »Danke Johan für das Tragen«, sagte sie freundlich, als sie neben ihm stand. Sie lächelte ihn sogar an. »War halb so wild«, log Johan und blickte zum Fluss. »Ich muss gehen, mein Vater wartet oben an der Straße«, ergänzte er dann schnell. »Auf Wiedersehen«, rief er Stellan zu, der in der Tür stand. »Bis morgen Johan, der Wald wartet schon auf uns.« Johan lächelte erleichtert zurück. »Bis Morgen«, dann rannte er, ohne sich umzuschauen den Berg hinauf. Zuhause angekommen, traktierte ihn Lena gleich mit einer Frage: »Findest du Kim auch so nett wie ich?« und ohne Luft zu holen, schob sie gleich die Zweite nach: »Glaubst du, das sie gleich morgen wieder zu uns kommen wird?«»Geht so, mal abwarten«, antwortete Johan brummig auf die erste Frage. »Sie ist sehr nett«, schaltete sich seine Mutter dazwischen. Das Thema gefiel Johan nicht, deswegen zog er sich zurück und schlenderte wieder hinaus. Er würde lieber ein bisschen herum gucken, ob es noch weitere, neue Bewohner in den versteckten Ecken des Waldhofes gab.