»Bitte nicht, Bert. Das ist Sache der Polizei«, wehrte Taylor ihn ab, aber da war Rudrin schon über die Bodenbretter und Ruderbänke geklettert. Er brachte das kleine Boot kräftig zum Schaukeln, so dass sie fast beide ins Wasser gefallen wären, und räumte die Riemen für seine Kurzinspektion aus dem Weg. »Keine Fische, aber auch keine Köder«, stellte er fest. Dann hob er entschuldigend die Hände, folgte Taylors Anweisung und stieg auf Zehenspitzen durch das Wasser zurück auf das Ufergras. Die unteren zehn Zentimeter seiner Jeans waren dunkel von der Durchnässung.
»Dann ist das sein Onkel«, sagte Rudrin, kaum dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und zeigte auf den verschüchtert wirkenden Alten. »Was weiß er?«
»Nichts«, antwortete Zanolla und fragte sich, ob Rudrins Hosenbeine nicht auch schon nass waren, als er so überraschend aufgetaucht war. »Schlief als wir kamen. Ingram fuhr nachts zum Angeln raus. Hat er offenbar öfter gemacht, wenn er zu Onkel Meynard herkam.«
Taylor stieg aus dem Boot und watete ans Ufer. Er hatte ein paar Buchten der Ankerleine mitgenommen und sicherte das Boot an einer jungen Birke. Dann machte er ein paar Fotos mit seinem Smartphone von dem Toten und dem Boot. Anschließend half er Zanolla, Ingram aus dem Wasser zu heben und am Ufer abzulegen. Sie drehten den Toten auf die Seite, um ein paar Blicke auf seinen Hinterkopf und Rücken zu werfen, aber ohne den Rücken zu entblößen, und ließen ihn dann wieder auf den Rücken sacken.
Taylor rollte seine Handschuhe von den Händen und zog Socken und Schuhe an, nachdem er seine Füße flüchtig an den Hosenbeinen abgetrocknet hatte. Er ging auf Rudrin zu und reichte ihm die Hand. »Anders Taylor«, sagte er, »es ist Zeit, uns bekannt zu machen. Das ist Toni Zanolla. Gehen wir zum Haus, Bert, ich muss telefonieren. Toni wird die Umgebung am Ufer etwas näher untersuchen, und ich werde mir Ingrams Sachen in der Hütte und im Auto ansehen. Kommen Sie, Mr. Meynard!«
Der Alte wirkte benommen. Er zuckte zusammen, als Taylor ihn rief. »Wo ist Tucker?« fragte er.
* * *
Grey kam mit einigen anderen aus dem weiträumig abgeschirmten Eingang des Westflügels des Weißen Hauses. Sie verabschiedeten sich nicht voneinander. Grey kam herüber zu seinem gepanzerten Wagen. Tessenberg hatte hier gewartet und stand neben dem Wagen in der kühlen Morgenluft. Später würde es unangenehm warm werden, da sollte man seine Frischluft besser jetzt tanken. Sie stiegen in den abgeschotteten Fahrgastraum ein, und Grey gab dem Fahrer über das Mikrofon Anweisung, zurück nach Crypto-City zu fahren. Eine mit zwei Mann besetzte Limousine folgte ihnen dichtauf.
»Ziemlich übel«, begann Grey. »Um Viertel nach sechs kam der Anruf von Krienitz’ Leuten über Ingrams Tod. Sie berichteten auch gleich, dass unser Mann, Rudrin, kurz nach dem Auffinden der Leiche zu ihnen gestoßen ist. Und gleich danach dann dein Anruf bei mir, dito, mit ein paar wesentlichen Ergänzungen. Da hatten wir gerade einmal die spärlichen Fakten über die Mails auf dem Tisch.«
»Dann war also die Creme der Creme geladen, Krienitz, Joergensen, du. Wer noch?«
»Margaret King, Direktorin des FBI.«
»So früh? So früh das FBI?«
»Der Präsident ist sehr beunruhigt, Peter. Trotz der vielen ähnlichen Drohungen, die er ohnehin ständig erhält.« Grey runzelte nachdenklich die Stirn. »Aus Sicht des Präsidenten sieht es so aus, wie es Sinners bereits gestern eingeschätzt hat, nämlich wie ein übliches Leck aus Sorglosigkeit. Der Brief wurde nicht gezeigt, aber der Präsident selbst erläuterte, dass er belanglos sei bis auf ein paar nur mäßig pikante Details, wie sie sich Schwestern vertraulich erzählen. Darüber wundern wir uns ein wenig, nicht wahr? Die Mail wird eher als Scherz gesehen: Da nennen sich welche PRIM und behaupten, alle verschlüsselten Mails lesen zu können, weil sie das Faktorisierungsproblem gelöst hätten. Sie wollen zig Millionen, Edelsteine, sonst schicken sie weitere private Briefe der Frau des Präsidenten, und zwar dann auch an die Presse.«
Grey blickte hinüber zu Tessenberg. Der nickte mehrmals stumm. Dann fuhr Grey fort: »Natürlich war zu erwarten, dass das niemand ernst nimmt, auch wenn denen schon klar ist, dass der Versand der Mail profihaft war. Vermille hat mit seinen Spezialisten in der Nacht einen Teil des Weges rekonstruiert, den die Mail genommen hat. Oberflächlich gesehen kam sie von dem Mail-Account eines Studenten der CSU, der California State University am Campus in Fullerton. Aber in dessen Account war eingebrochen worden, und die Mail kam ursprünglich von einem Server einer Firma Finuresse S.A. oder so ähnlich aus Grenoble in Frankreich. Da war es dann schon nachts, als die Krienitz und Vermille beziehungsweise ihre Leute deren Computersicherheitsbeauftragten erreichen wollten. Der hat aber inzwischen - dem Zeitunterschied und den Französischkenntnissen einiger Secret Service Leute sei es gedankt - herausgefunden, dass ein terminierter Auftrag zum Versand der Mail von Unbekannten auf den Firmenrechner übermittelt worden war. Der oder die Urheber sind nach Angaben dieses Mannes nicht auszumachen, da offenbar wichtige Hinweise gelöscht worden sind. FBI-Leute aus Paris sind nach Grenoble unterwegs.«
»So weit sind sie immerhin gekommen. Das ist der halb professionelle Teil des Weges.«
»Wie meinst du das? Ist das nicht schon sehr weit?«
»Nein. Das ist so geplant. Dass die Verfolgung ein Stück weit möglich ist und dabei viel Zeit und Mühe kostet. Bei einer unmittelbaren Verschleierung wären die nur bis zur CSU gekommen. Denn der Student liegt gerade im Krankenhaus oder ist auf einer Expedition im Urwald, oder er ist seit zwei Jahren nicht mehr an der Uni, und sein Account ist eigentlich seitdem geschlossen. Der letzte protokollierte Zugang zum Account liegt zwei Jahre zurück. Ein Außerirdischer hat die Mail an die First Lady verschickt.«
»Und dieser Punkt liegt jetzt in Grenoble? Wo die Verfolgung nicht weiter möglich wird?«
»Ja.«
»Wie beruhigend. Sie vermuten natürlich, wie zu erwarten war, ein Leck bei denen, die irgendwie und irgendwo mit den Programmen, mit den Rechnern oder mit den Passwörtern zu tun haben. Da ist unser Walter Ingram eine zentrale Figur. Wir müssen annehmen, dass sie ihn als PRIM verdächtigen. Oder dass er zu denen gehört. Das wird wohl erst vorbei sein, wenn weitere Mails eintreffen. Bis dahin werden sie Ingram durchleuchten, posthum sozusagen, und hoffentlich nicht Pink entdecken.«
»Das halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Er war ein Profi. Werden wir an den Untersuchungen nicht beteiligt, Ernie?«
»Nicht direkt. Der Secret Service leitet die Sache, das FBI mischt natürlich mit, und Krienitz ist die Chefin. Aber wie ich unsere Kollegen kenne, werden sie bald jemand anderen benennen. Ich habe vorgeschlagen, einen Ersatz für Ingram zu schicken. Das fanden sie okay. Aber nicht, bevor die Untersuchung abgeschlossen ist. Pam Stonington bekommt natürlich neue Schlüssel.«
»Dann sind wir überhaupt nicht in der Gruppe vertreten?«
»Nein. Jedenfalls nicht in dem Team, das nach Lecks im Weißen Haus oder einer Verbindung von Ingram zu PRIM sucht. Das ist ausschließlich Sache des Secret Service. Ist ja vielleicht gut so. Natürlich werden wir unsere eigenen Untersuchungen durchführen und denen unsere Ergebnisse zur Verfügung stellen. Zu Recht hat keiner von denen bezweifelt, dass unsere Verschlüsselungen sicher sind. Das Leck betrifft entschlüsselte Dateien oder Schlüsseldiebstahl.«
»Richtig. Man wird bei der Schwester der First Lady suchen, dieser Viola Sinclair. Schließlich hat sie die Mail bekommen.«
»Sie hatte ihr Notebook auf Geheiß von Stonington oder der Krienitz gleich mitgebracht, als sie gestern ins Weiße Haus geholt wurde. Mit dem Hubschrauber übrigens! Sie behauptet, nur allein Zugang zu ihrem Notebook und zu den Mails zu haben und alle Mails ihrer Schwester nach