PRIM. Dietrich Enss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Enss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847621294
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Taylor klopfte erneut.

      Unvermittelt wurde die Tür geöffnet. Ein ausgemergelter, etwa sechzig Jahre alter Mann trat in den Türrahmen. Er war barfuß, trug Shorts und ein Unterhemd, und er hatte sich mindestens eine Woche lang nicht rasiert. »Ich weiß nicht, wo Tucker ist«, sagte er und blickte Taylor fragend an. »Wer sind Sie?«

      »Agent Taylor, Secret Service. Und das ist Agent Zanolla.« Taylor wies auf Zanolla, der nun herankam, zeigte aber keine Marke. »Mr. Meynard, wir müssen dringend Ihren Neffen Walter Ingram sprechen. Bitte holen Sie ihn!«

      »Kollegen!«, murmelte der alte Mann abfällig, drehte sich um und verschwand im Dunkeln. Zanolla folgte ihm unaufgefordert. Er fragte sich, ob der Alte nicht wusste, dass Ingram bei der NSA arbeitete. Vielleicht hatte Ingram ihm nur gesagt, dass er bei einem Geheimdienst beschäftigt war.

      »Nicht da«, stellte der Alte fest und zeigte auf ein zerwühltes Bett. »Fische.«

      »Wie bitte?« Zanolla hatte den Eindruck, dass Meynard noch nicht ganz wach war.

      »Ist draußen und angelt. Walter. Nachts. Nachts ist es am besten. Und in der Dämmerung.«

      »Können wir ihn rufen?«, fragte Zanolla während Ingrams Onkel sich halb zerrissene und stark verschmutzte Sportschuhe über die nackten Füße zog. »Der See ist doch nur eine halbe Meile groß.«

      »Ja, ich«, antwortete der Alte. »Er hat Tucker mitgenommen, der hört mich bestimmt.«

      Als sie näher an den See kamen, wurde ein kleiner, teilweise von Schilf verdeckter Holzsteg sichtbar. Ein Plastikkahn für zwei Mann war daran festgemacht und lag regungslos im Wasser.

      »Kein Boot. Holzboot ist weg. Dann sind sie draußen«, erklärte der Alte. Nacheinander, und mindestens zehn Mal, riefen sie nach Walter, und der Alte rief dazwischen auch immer wieder nach dem Hund. Sie lauschten, aber es kam keine Antwort.

      »Wir müssen suchen.« Taylor zog den Alten zum Boot. »Versuch du es am Ufer!«, rief er Zanolla zu und zeigte nach links, wo der Bewuchs im Flachwasserbereich nicht ganz so dicht zu sein schien. Zwei Vögel erschreckten die Agenten, als sie zum Flug ansetzten und dabei ein paar Mal mit den Flügelspitzen auf das Wasser schlugen. »Blauflügelenten«, sagte der Alte. »Verdammte Biester!«, fluchte Taylor.

      Taylor überließ dem Alten die Riemen und setzte sich auf die hintere Bank. Etwas weiter draußen schien es heller zu sein, aber der Morgen schritt ja auch voran. Inzwischen konnte man die mit Hemlocktannen dicht bewaldeten Berge sehen.

      »Bekommt man hier draußen auf dem See ein Signal?«, fragte Taylor und holte sein Smartphone aus der Hemdtasche.

      »Keine Chance!«, erwiderte Ingrams Onkel und drehte das Boot, indem er die Riemen ein paar Mal gegenläufig bewegte. Taylor konnte nun etwa dreihundert Meter des Ufers rechts und links von der Hütte einsehen. Fast überall stand Schilf. Ein Paradies für Wasservögel. »Berge sind im Weg. Für den Funk. Für mich einen Mann bauen die hier keinen Mast hin. Ich soll mir so ein Salle… so ein Telefon für ein Satellit kaufen, haben die mir gesagt.«

      Taylor fluchte leise. Sie hätten sich denken können, dass Ingram wegen einer fehlenden Netzabdeckung nicht zu erreichen war, und ein Satellitentelefon mitnehmen können. Er rief nach Zanolla, der nicht zu sehen war.

      »Nichts soweit!«, antwortete der kaum vernehmbar etwas weiter rechts von der Hütte entfernt, als Taylor erwartet hatte. Gleich darauf viel lauter: »Warte einen Moment! Ich sehe das Boot, glaube ich.«

      Der Alte war bereits dabei, den Kahn auszurichten und zu der Stelle am Ufer zu rudern, an der Zanolla sein musste. Kurz vor Erreichen des Schilfgürtels konnte Taylor das Boot erkennen, dann auch Zanolla. Er dirigierte den Alten durch das Schilf. Als sie das Ufer erreichten, fanden sie Zanolla mit hochgekrempelten Hosenbeinen über die Leiche Walter Ingrams gebeugt. Sie lag auf dem Rücken neben dem Boot im seichten Wasser in nur etwa fünfzehn Zentimetern Tiefe.

      Sie konnten keine Spuren eines gewaltsamen Todes sehen. Kein sichtbares Blut im Wasser. Ingrams Augen waren offen und ausdruckslos. Die Hornhäute zeigten noch keine Anzeichen einer Trübung. Zanolla richtete sich auf und holte ein paar Latexhandschuhe aus einer Schatulle an seinem Gürtel. Er zog sie über und beugte sich dann wieder hinab zu dem Toten und schob die Lider über Ingrams Augen. Beim rechten Auge öffnete sich das Lid auch nach dem zweiten Versuch wieder um ein paar Millimeter. Dann bewegte er mühelos Ingrams Finger und Handgelenke. Die Totenstarre hatte noch nicht eingesetzt. Er zog Ingrams Unterkiefer herab und blickte in den leeren Mund. »Keine zwei Stunden her,« sagte er. Beim Loslassen des Kiefers begann sich Ingrams Mund langsam wieder zu schließen, ein makabrer Anblick, dem Zanolla mit einem entschlossenen Klaps gegen die Unterseite des Kinns ein Ende bereitete.

      Während Zanolla anschließend die Taschen des Toten leerte, streifte sich auch Taylor Gummihandschuhe über und fing an, das Boot zu untersuchen. Es lag mit dem Spiegel zum Ufer gerichtet und hatte Grundberührung mit dem achterlichen Teil des Kiels, so dass es bei Taylors Einsteigen zwar kippelte, aber nicht abtrieb. Der Name TERN stand in ungelenker, fast verblichener Schrift auf dem Spiegel. Seeschwalben waren sicher selten hier, aber es war wohl bei der Namensgebung darum gegangen, einen möglichst kurzen Namen zu finden, den man schnell aufmalen konnte. Im Boot lagen ein paar Angelruten, die Riemen, zwei umgekippte Eimer, eine etwa drei Meter lange und ziemlich verschlissene Festmacherleine und ein mindestens dreißig Kilogramm schwerer Klappdraggen mit einem kurzen Stück Kette und daran angeknoteter, für diese Ankergröße zu dünn scheinender Ankerleine von beträchtlicher Länge. Sie lag in unordentlichen Windungen vorn auf dem Bootsboden. Ein paar Bodenbretter in der Bootsmitte waren angehoben. Darunter schwappte dunkles Wasser. Etwas Grünes lag oder schwamm darin und erregte Taylors Aufmerksamkeit. Er holte es heraus und hielt es fragend in die Höhe. Es sah aus wie eine Kinderschaufel aus Plastik.

      »Zum Ausschöpfen. Wenn Wasser im Boot ist«, klärte Zanolla Taylor auf.

      Taylor warf das Ösfass zurück ins Boot, zog dann den rechten Handschuh wieder aus und prüfte die Ankerleine auf Nässe. Offenbar hatte Ingram den Anker geworfen. Der See musste recht tief sein.

      »Mr. Taylor«, sagte der Alte plötzlich, der bis dahin wortlos etwas höher am Ufer gestanden hatte. Beide Agenten blickten zu ihm auf, und sie blickten in die Mündung einer P229. Sie gehörte einem kräftigen, etwa fünfunddreißig Jahre alten Mann, der Jeans, ein langärmliges, kariertes Hemd, eine abgetragene Lederweste und eine blaue Baseballkappe mit dem Emblem der New York Yankees trug. Er hielt den Alten mit der linken Hand eher beiläufig fest, aber doch so, dass der sich kaum bewegen, geschweige denn von dem Griff befreien konnte.

      Zanolla und Taylor richteten sich auf. Beide bewegten sich langsam und kontrolliert wie Leute, die richtiges Verhalten in solchen Situationen trainiert und verinnerlicht hatten. Sie nahmen die Arme nicht hoch, hielten sie nur leicht vom Körper ab wie Gärtner, die in der Erde gewühlt hatten und sich nicht die Kleider schmutzig machen wollten. »Secret Service«, sagte Zanolla.

      Der Mann sicherte seine Pistole und steckte sie in einen Halfter unter der Weste. »NSA, Bert Rudrin«, sagte er und ließ den Alten los. »Dann wart ihr doch tatsächlich schneller.«

      »Jaah«, grinste Taylor und zog das Wort in die Länge. »Wie immer eigentlich. Und wir haben modernere Pistolen als ihr. Haben Sie ein Telefon, Bert, ein Satellitentelefon?«

      »Dafür dürfen wir eigene Waffen tragen. Ein Satellitentelefon habe ich im Wagen. Aber Sie bekommen es erst, wenn ich dafür auch etwas von Ihnen bekomme. Was haben Sie herausgefunden?«

      »Walter Ingram. Euer Verein. Dringend gesucht wegen was auch immer. Wir wissen es nicht, vielleicht können Sie es uns sagen. Ertrunken im offenbar abgelegensten See der Vereinigten Staaten, vielleicht auch Selbstmord oder Mord, das werden die Leute von der örtlichen Polizei klären. Keine erkennbaren Spuren von Gewalt. Todeszeitpunkt vor ein bis zwei Stunden, würde ich schätzen. Keine Papiere, keine Schlüssel, kein Handy oder Smartphone. Seine Uhr läuft noch, ist wasserdicht. Keinerlei Auffälligkeiten, wenn man von seinen Schuhen absieht. Ach - und keine Fische.«

      »Was ist mit den Schuhen?« fragte Rudrin.

      »Die