Der Totenflüsterer. Dietmar Kottisch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar Kottisch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847676713
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kann ich nicht mehr.“ Sie stapelte die Teller und das Besteck in den Geschirrspüler. Annemarie stand mit verschränkten Armen am Küchenschrank gelehnt und wartete auf eine Fortsetzung. Klara machte die Klappe zu und setzte sich auf einen Stuhl. Versonnen starrte sie auf das Muster der Tischdecke. „Warum kannst du nicht mehr? Geht dir sein Geschwätz auf die Nerven? Kann ich verstehen, Klara.“

      „Das ist es nicht. Gestern ist etwas passiert, was ich …was ich noch nicht verdaut habe.“ Der Abend dämmerte und Klara machte das Licht an. Es war zwischenzeitlich acht Uhr. Annemarie wartete.

      „Ihr beide kennt die Geschichte mit meiner Schwester Sarah.“

      Annemarie nickte und setzte sich zu ihrer Freundin an den Tisch. Vom Wohnzimmer aus hörten sie die Stimmen der Männer.

      „Du weißt, dass es für mich ein dunkles, trauriges Kapitel war und immer noch ist.“

      Annemarie nickte wieder: „Der Tod von einem so jungen Menschen ist immer eine Katastrophe.“

      Klara holte tief Atem, bevor sie weiterfuhr. „Paul hat die Stimme von Sarah auf Band.“

      Es dauerte, bis bei Annemarie die Botschaft umgesetzt wurde. „Der hat was?“ Sie starrte die Freundin an.

      „Paul hat die Stimme meiner toten Schwester auf seinem Tonband. Ich habe sie gehört.“

      Nach einer ganzen Weile sagte Annemarie: „Jetzt brauch ich `nen Cognac. Hast du einen da?“

      Klara sah, wie Annemarie blass wurde. Die Küchenuhr tickte, die Stimmen der Männer waren plötzlich weit im Hintergrund. Klara nickte, stand auf, ging ins Wohnzimmer zur Anrichte und holte die Flasche Cognac heraus.

      „Ich denke, ihr räumt in der Küche auf?“ Lothar spürte, dass etwas in der Luft lag. „Dann prost!“

      Paul und Klara tauschten Blicke aus. Paul ahnte, weswegen die Flasche jetzt in der Küche gebraucht wurde, sagte aber nichts.

      Klara schenkte der Freundin Cognac ein und setzte sich wieder hin. Das Blubbern aus der Flasche mischte sich mit dem Ticken der Uhr. Annemarie nahm den Schwenker und trank ihn mit einem Zug halb leer. „So, und jetzt erzähl weiter. Ich ahnte immer schon, dass an dieser Sache was dran ist …“

      „Die Stimme alleine war nicht so sehr der Schock. Es könnten tausend Sarahs gewesen sein, die aus dem Lautsprecher kamen, aber trotzdem glaube ich, Sarah erkannt zu haben, sogar nach neunzehn Jahren. Und ich hatte das Gefühl, dass die Stimme älter klang. Es war die Botschaft, die mich schockte.“

      Annemarie griff wieder zum Glas, als wolle sie sich wappnen. „Die Botschaft?“

      „Sie sagte einen Namen, nämlich Äppli.“

      Gespannt hörte die Freundin zu.

      „Äppli war Sarahs erste Liebe, ein Junge aus Bern. Wir waren in der Schweiz auf Urlaub und sie hatte ihn dort kennen gelernt. Sie verliebte sich sofort in ihn. Die erste Liebe …mein Gott, was sag ich da?“ Plötzlich weinte Klara. Annemarie stand auf und legte einen Arm um ihre Schulter. „Was sag ich da? Die erste Liebe? Die einzige Liebe in ihrem kurzen Leben, verdammt noch mal, die einzige!“

      Annemarie nahm den Cognacschwenker und hielt ihn an Klaras Mund. „Komm, trink einen Schluck, das beruhigt.“ Klara nahm einen kleinen Schluck. „Es geht schon wieder, es geht schon. Verstehst du, was das bedeutet? Ahnst du, was das heißt, dieses kleine beschissene Wort Äppli?“

      „Ja, ich glaube. Es bedeutet, dass deine Schwester weiterlebt und dir eine Botschaft sendet. Eine Sarah, die einen Äppli kennt, wird es wohl im ganzen Universum nicht zwei Mal geben. Mit Sicherheit nicht!“

      Die beiden Freundinnen schwiegen, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Dann hörten sie Lothars Stimme aus dem Wohnzimmer. „Dürfen wir euch beim Aufräumen helfen? Kriegen wir auch einen Cognac?“ Annemarie verdrehte die Augen. Dann hörten sie Pauls Stimme: „Kommt ihr wieder ins Wohnzimmer?“

      Als die beiden Frauen zurückkehrten, sah Lothar, dass Klara geweint hatte. Er drückte die Zigarette in den Aschenbecher, stand auf und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Hab ich was Falsches gesagt? Das wollte ich nicht.“

      „Nein, du kannst nichts dafür.“

      Dann sah Lothar Paul an: „Weißt du, um was es geht?“

      „Ich denke schon, aber dich wird es sicherlich kaum interessieren.“

      „Nun mal halblang,“ protestierte er.

      Seine Frau setzte sich zu ihm. „Wenn ich dir erzähle, was ich eben erfahren habe, wirst du dich wundern, mein Lieber!“

      Verdutzt sah er sie an. „Jetzt bin ich aber gespannt“.

      „Paul, erzähl du es ihm,“ bat Annemarie, „du bist der Fachmann.“

      „Ich kenne deine Meinung, „ begann er, „zumal du schon öfters Stimmen von mir gehört und sie als Einbildung bezeichnet hast. Aber jetzt spiele ich dir diese zwei Stimmen einmal vor. Bilde dir selbst ein Urteil, mein Freund, o.k.?“

      Lothar nickte und sagte nichts mehr. Sie standen auf und gingen ins Arbeitszimmer, Paul nahm seinen Platz ein und die anderen verteilten sich auf die Stühle, nur Lothar blieb stehen. Paul schaltete das Tonbandgerät ein, suchte in seinem Block die Daten. „Hier hab ich sie.“ Er schaute seinen Freund an. „Bist du bereit?“

      „Ja.“ Lothar schaute in die Runde, seine Miene spiegelte Verlegenheit wider, als habe man ihn bei etwas Unerlaubtem erwischt. Und dann zuckte er kurz zusammen, als er die Stimmen laut und deutlich hörte.

      Er konnte nicht ahnen, dass er 2 Monate später…

       3.

      In Wiesbaden, in einer Seitenstrasse der Luisenstraße, befand sich der >Interessenverein der Tonbandstimmen<. Die Räume waren eine ehemalige Fahrschule, die in einen anderen Stadtteil umgezogen ist. Die kleine Schar der Tonbandstimmenforscher traf gegen neunzehn Uhr ein. In einer Ecke des zehn mal zwölf Meter großen Raumes stand auf einem kleinen Beistelltisch ein Kaffeeautomat mit Tassen und Untertassen, ein Heißwasserkessel, Kaffeetüten, 4 Teedosen und Teefilterpapier. Kaffee und Tee wurden an diesen Abenden in rauhen Mengen getrunken.

      In der Mitte standen ein ovaler Tisch und sechs Stühle. Der Raum war gut beleuchtet durch große Deckenstrahler.

      Es waren da:

      Paul Klein,

      Rainer Drechsler, Inhaber eines Supermarktes in Frankfurter Stadtteil Schwanheim,

      Franziska Breitenbach, Sekretärin in einem Anwaltsbüro in Frankfurt,

      Jochen Brahms, Arzt in Büdingen, einem kleinen historischen Städtchen am Fuße des Vogelsberges,

      Irmgard Kowalski, Hausfrau aus Bad Homburg,

      und Dieter Schelling, Sachbearbeiter bei einer Versicherung in Frankfurt.

      Nach und nach nahmen alle Platz. In der Mitte des Tisches stand eine Tonbandmaschine, auf der alle ihre mitgebrachten Bänder abspielen konnten. So musste nicht jeder jedes Mal sein eigenes Tonband mitbringen. Oder jemand benutzte einen Kassettenrekorder. Sie begrüßten sich herzlich, denn im Laufe der Zeit entstand unter ihnen eine Art vertrauensvoller Freundschaft mit einem einzigen Ziel, der Welt zu beweisen, dass der Tod nicht das Letzte war, sondern dass es im Jenseits auf eine noch zu erforschende Art ein Weiterleben gab.

      Die Arbeiten faszinierten sie, sie tauschten die neuen Ergebnisse aus und diskutierten. Nachdem alle auf ihren Stühlen saßen, eröffnete Paul die Sitzung mit den Worten: „Ich habe vorgestern eine interessante Einspielung gemacht. Es sind zwei gute Stimmen übers Mikrophon. Und das Schöne daran ist, dass ich einen Freund von mir, einen sehr sarkastischen Skeptiker, zumindest das Schweigen gelehrt habe.“

      „Ich bin gespannt,“ sagte Jochen lächelnd und zündete sich eine Zigarette an.

      Paul legte seine Bänder in das Tonbandgerät