Sie hörte ringsherum nichts mehr.
Sie schloss die Augen und sah ihre kleine Schwester vor sich.
>Sarahhhhhhhhhhhh<, der Konsonant klang wie ein hin gehauchter Atem. Sie schüttelte den Kopf…“Nein, nein Paul, das ist … das kann nicht meine Schwester sein…“ Sie wehrte sich mit allen Kräften gegen das Gehörte, wollte es leugnen. Es mag Millionen Menschen mit dem Namen Sarah geben, dachte sie abwehrend! Paul sagte nichts, denn dann kam dieselbe Stimme noch einmal, und beide hörten anschließend das Wort >Äppli<. Er stellte das Gerät ab.
„Wer oder was ist Äppli?“ fragte er und sah in ihr blasses Gesicht. Sie setzte sich ganz nah an ihn heran, verkrampfte ihre Hände im Schoß und starrte das Tonbandgerät an. Ihr Herz stolperte vor Erregung. Dann nahm sie seine linke Hand in ihre und drückte sie so fest zu, dass die Knöchel weiß wurden. Es war totenstill im Zimmer. Sie presste die Lippen zusammen, als wolle sie das nicht sagen, was sie sagen musste. Es war wie der stumme Schrei vor neunzehn Jahren, als sie erfuhr, dass Sarah ertrunken war. Mit einem Schlag traf sie die Erkenntnis, dass diese Stimmen real waren. Und dass diese wie aus weiter Ferne hin gehauchte Jungmädchenstimme die ihrer toten Schwester ist. Minuten des Schweigens vergingen.
Er fragte noch einmal behutsam: „Liebling, was oder wer ist Äppli?“
Dann drehte sie langsam den Kopf zu ihm. „Äppli war Sarahs erste zarte Liebe – mit dreizehn.“
Das war genug an diesem Abend. Mehr konnte und wollte sie nicht hören, sie musste jetzt plötzlich alles, was sie bezweifelt hatte, in einem anderen Licht sehen. Die ganze Nacht hatte sie Schwierigkeiten einzuschlafen.
Paul hatte versucht, sie in die Arme zu nehmen, aber sie hatte sich zurückgezogen, sie wollte mit diesem seltsamen Gefühl alleine sein.
Immer wieder hörte sie diese hin gehauchte Stimme, diese Frage oder Mitteilung, dieses stille, hauchende Rufen aus weiter Ferne. Gegen vier Uhr fielen ihr die Augen zu, und sie begann in einen Dämmerzustand hinüberzugehen, einer Phase zwischen Wachen und Halbschlaf. Und auch da hörte sie ihre Schwester in immer wieder anderen Stimmlagen „Sarahhhhhh“ und „Äppli“ rufen. Gerne hätte sie ihren Mann geweckt, aber er musste früh aufstehen. Gegen halb fünf schlief sie ein.
Am anderen Morgen spürte sie Pauls Mund an ihrer Wange. Er küsste sie und verließ die Wohnung, um in einen seiner drei Teeläden zu fahren.
Gegen acht Uhr stand sie auf. Sofort waren ihre Gedanken wieder bei ihrer Schwester und der Stimme von gestern Abend. Sie fühlte sich wie gerädert, dann kamen Kopfschmerzen hinzu. Und in einer irren Phase dieses Morgens hatte sie das Gefühl, sie wäre nicht alleine in der Wohnung, Sarah wäre bei ihr. Sie kochte sich einen Tee, Hunger hatte sie keinen, die ganze Sache war ihr auf den Magen geschlagen. Während sie nach ihrer Teedose griff und einen Löffel Darjeeling für ihre Tasse herausschöpfte, dachte sie unwillkürlich daran, dass Sarah jetzt dreiunddreißig Jahre alt wäre, vielleicht wäre sie verheiratet oder wieder geschieden, vielleicht hätte sie Kinder, vielleicht wäre sie glücklich oder auch nicht. Es war wie ein Zwang, an Sarahs nicht-lang-gelebtes-Leben zu denken. Sie erinnerte sich an Bertolt Brecht aus dem Lesebuch für Städtebewohner „Wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe“.
2.
Für den nächsten Abend hatten sich Lothar und Annemarie angemeldet.
Lothar war für Klara der richtige Skeptiker, seine Frau Annemarie dachte schon eher in Richtung, alles kann möglich sein in dieser Welt. Auch sie nahm Hamlet als Beispiel, dass > es mehr Ding` im Himmel und auf Erden gibt, als eure Schulweisheit sich träumen lässt<. Klara fragte Paul, ob sie es den beiden mitteilen soll, was sie gestern Abend erfahren hatte, weil es unweigerlich immer wieder zum Thema Tonbandstimmen kam. Er sagte: „Das musst du selber wissen, wenn du davon überzeugt bist, Liebling.“
„Überzeugt ist nicht der richtige Ausdruck. Ich hab zum ersten Mal solche Stimmen gehört, bin ziemlich aufgewühlt über Sarahs Stimme. Ich brauche viel Zeit, um wirklich - - na ja - - alles zu verinnerlichen.“
„Klar, sprich drüber, wenn du willst.“
Lothar war ein hoch gewachsener Mann mit hellen, nach hinten gekämmten langen Haaren, dessen Oberlippenbärtchen das schmale Gesicht betonte.
Er nannte Paul sarkastisch den „Totenflüsterer“ und lehnte seine Interpretation mit dem Hinweis ab, sein Freund sehe oder höre die Dinge so, wie er sie gerne sehen oder hören möchte. Wenn er mit den Stimmen konfrontiert wurde, zuckte er nur mit den Schultern. „Ich höre zwar Flüsterstimmen und Geräusche, manchmal auch ein Wort, aber nichts Genaues.“
Paul gab es dann schließlich auf, ihn überzeugen zu wollen. Lothar sah in Klara eine Mitstreiterin der exakten Wissenschaft gegen die Spinnerei eines Paul Klein. Die Meinung seiner Frau Annemarie, die zumindest zu Paul tendierte, nahm er auch nicht für voll.
Beide hatten einen zehn Jahre alten Sohn, Arnold.
Klara hatte gegrillten Lachs gemacht. Lothar und Paul tranken Rotwein, Annemarie gerne einen Weißwein und Klara mied den Alkohol.
Heute Abend jedoch befand sie sich in einer Zwickmühle. Sie hatte ein wenig Angst vor Lothars Sarkasmus, wenn sie gestehen muss, dass sie die Stimme von Sarah gehört hatte. Sie würde nicht darum herumkommen, Farbe zu bekennen, wenn die Diskussion losging.
Nach dem leckeren Essen hob Lothar sein Glas. „Auf eine reale gute Köchin, das war ein richtiger Genuss, zum Wohl!“
Alle hoben ihre Gläser und tranken. Es war ein wunderschöner kalter Spätherbstabend mit untergehender Sonne, die ihr Licht an die Wand des Esszimmers warf.
Lothar zündete sich eine Zigarette an, suchte nach dem Aschenbecher, bis Klara ihm einen aus der Küche holte.
„Na, Klara, bist du jetzt endlich so weit, deinen Totenflüsterer überzeugt zu haben, dass es dort ein so leckeres Essen nicht gibt!“
Keiner lachte und Lothar fuhr fort: „Könntest du mir als Banker nicht die nächsten Börsenbewegungen voraussagen lassen? Oder die Lottozahlen?“
„Ich finde deine Häme unangebracht, Lothar. Du kannst nur meckern, aber etwas Konstruktives kannst du nicht beitragen,“ tadelte seine Frau und schaute ihn aus schmalen Augen an. „Oder hast du Beweise für deine negativen Ausführungen? Kannst du mir beweisen, dass das alles Humbug ist,?“ fuhr sie fort. Lothar zuckte leicht zusammen und schwieg erst mal.
Annemarie war eher klein gewachsen, hatte kurzes, dunkles, gelocktes Haar, ein rundes Gesicht, und ihre Augen waren von einem intensiven Haselnussbraun.
„Paul hat wenigstens einen Anscheinsbeweis für seine These. Er kann jederzeit die Stimmen vorspielen. Er schaltet das Tonbandgerät ein und man hört die Stimmen.“
„Ich hör` nichts, nur Geräusche und Geflüster.“
„Weil du nichts hören willst.“
„Es gibt nichts zu hören,“ erwiderte er trotzig.
„Siehst du! Du behauptest, Paul höre, was er hören will, du reagierst genauso, du willst nichts hören, also hörst du nichts. Basta.“
„Und du? Hörst du was Genaues?“
„Ich bemühe mich. Ich höre zwischen den Geräuschen Stimmen. Man muss sich konzentrieren, weil sie manchmal leise sind oder ganz schnell oder sehr langsam.“
Sie schien heute auf Konfrontation aus zu sein, dachte Klara und war ihr dankbar. Lothars einziger Ausweg war jetzt Klara; er warf ihr einen flehenden Blick zu, als wolle er sagen: hilf mir! Aber sie konnte ihm nicht mehr helfen. „Was ist, Klara, meine allerbeste Freundin? Stehe ich jetzt alleine auf weiter Flur gegen die Spiritisten oder Animisten oder wie die sich nennen? Sag was dazu.“ Er tippte die Asche ab und zog wieder an der Zigarette.
Klara stand auf. „Wir räumen