Mörderische Schifffahrt. Charlie Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charlie Meyer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847697503
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      Es war stockdunkel in seiner Ecke. Der schwache Lichtschein aus dem Gang schlug, zwei oder drei Meter neben ihm, eine schmale Schneise in die Finsternis. Dickie blickte seufzend gen Himmel. Nachtschwarz! Da blinkte kein Stern, da leuchtete kein Mond, ein Himmel wie ein schwarzes Leichentuch. Einfach nur deprimierend. Der Fahrtwind zauste die drei langen Pfauenfedern an seiner Kappe, die er sich zwischen die Füße geklemmt hatte. Diese alberne rot-grüne Kappe, die vorn in einer dermaßen langen Spitze auslief, dass sie bei hochstehender Sonne einen Schatten auf seine Schnabelschuhe warf.

      Von oben hörte er eine Stimme etwas murmeln. Es klang wie Komm schon, du Wichser, und als er vorsichtig nach oben lugte, sah er eine schwarze Gestalt sich über die Reling beugen. Dickie Blume rührte keinen Muskel, bis sich die Gestalt mit etwas, das wie ein gemurmelter Fluch klang, zurückzog. Die Stimme gehörte Roland Nimsch. Dickie verzog das Gesicht. Die wievielte Zigarette rauchte der Kerl da oben schon? Die Zwanzigste oder Dreißigste? Was für ein erbärmlicher Faulpelz. Die Kohlen einheimsen, aber andere für sich schuften lassen.

      Die Schrauben der Libelle wühlten das dunkle Wasser auf. Eine helle Gischtspur folgte dem Schiff.

      Dickie beugte sich weit vor und steckte den Kopf zwischen die Knie, in der Hoffnung, irgendwo dort unten eine halbwegs geschützte Stelle zu finden. Der Wind blies ihm ständig das Feuerzeug aus. Während er sich vorbeugte und sein Gewicht verlagerte verrutschten die Tauschlingen unter seinem Hintern, und als er sie wieder zu ordnen suchte, quiekte er erschrocken auf. Etwas, was aus den Schlingen gerutscht war, hatte seine Finger gestreift. Mit klopfendem Herzen tastete er in der Finsternis danach. Ganz vorsichtig. Nicht dass es ein Fell hatte, einen langen Schwanz und Nagezähne. In seinem Vertrag stand nichts von echten Ratten. Die Ratten, die dem hauptamtlichen Rattenfänger sonntags auf der Rathausterrasse hinterher krabbelten, wurden kurz vorher von ihren Eltern in graue Kapuzenkostüme gesteckt und kicherten die Hälfte der Zeit albern. Kinder eben.

      Dickie stupste das Etwas in der Mitte der Tauschlingen vorsichtig an, doch nach und nach sickerte die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass Plastiktüten in den seltensten Fällen bissen. Seine Finger wurden mutiger, seine Neugier erwachte. Es kribbelte ihn allerdings nicht nur in den Fingern, es kribbelte ihn vor allem hinter der Stirn. Heimlichkeiten weckten in Dickie Blume den unwiderstehlichen Drang, des Pudels Kern zu enthüllen. Ein Geheimnis zu lüften. Eingeweiht zu sein. Da versteckte irgend ein Jemand etwas, und Dickie wollte wissen was. Jetzt und hier. Ob es den echten Rattenfänger ebenfalls gekribbelt hatte, als er auf Hameln zumarschierte und die Silhouette der Stadt aus dem Frühnebel auftauchen sah? Und hatte es ihn unheilvoll gekribbelt?

      Dickie ließ sich wieder häuslich auf der Taurolle nieder und begann das unerwartete Geschenk auszupacken. Zwei Einweckgummis hielten Plastiktüte und Inhalt zusammen, und als er die Gummis abgestreift und in die Tüte gelangt hatte, hielt er einen dicken, braunen Briefumschlag in der Hand.

      Wow, dachte er aufgeregt, während seine Finger den Inhalt zu ertasten suchten. Geheimpläne? Drogengeld? Ein Packen Liebesbriefe? Er ließ sich ein kleines bisschen Zeit, zögerte den Höhepunkt der Spannung hinaus, doch dann riss Dickie den Umschlag beherzt auf, griff hinein und zog etwas heraus, was sich nach Fotos anfühlte. Sehen konnte er in der Finsternis so gut wie nichts.

      Plötzlich hielt er inne. Ihm war, als habe er für einen Moment das gedämpfte Stimmengewirr aus dem feiernden Salon gehört. Im war auch, als habe ein versteckter Teil seines Unterbewusstseins das Zuklappen einer Tür gehört, und zwar der Glastür, die auf sein Achterdeck führte. Dickie erstarrte, wandte dann ganz langsam den Kopf und versuchte Löcher in die Finsternis zu starren. Unter seinen Füßen dröhnten und vibrierten die Schiffsmaschinen. Als vom Ufer der Flügelschlag eines aufgeschreckten Vogels erklang – ein Reiher vielleicht – zuckte er erschrocken zusammen, und ihm war, als ob ganz in seiner Nähe ein anderer Jemand ebenfalls zusammengezuckt war. Als sich seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen begannen, kristallisierte sich vor dem Rettungsboot eine Gestalt aus dem Schwarz heraus. Das Gesicht seines Besuchers konnte er nicht erkennen, nur die Umrisse eines Menschen, der reglos in der Dunkelheit stand. Der Kopf sah seltsam eckig aus. Geradeso, als ob der Kerl einen flachen Hut oder eine Kappe trug.

      Betrunken und verlaufen, dachte Dickie verärgert. Hier ist nur Zutritt fürs Personal. Konnte der Kerl nicht, wie alle anderen auch, aufs Oberdeck gehen?

      Totstellen, dachte er gleich darauf und presste sich mit dem Rücken gegen das kalte Metall der Schiffsaufbauten. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Ein paar Sekunden passierte nichts, dann spürte Dickie mehr als er sah, wie sich der Mann in seine Richtung drehte und auf ihn zukam. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein durch und durch verpfuschter Abend. In Windeseile spielte er seine Optionen durch. Er konnte sich weiterhin tot stellen, dann stolperte der Banker über seine Schnabelschuhe. Im unglücklichsten Fall verlor er das Gleichgewicht, stürzte über die Reling und ertrank. Im zweitunglücklichsten Fall stolperte er über die Schnabelschuhe, ohne über die Reling zu stürzen. Doch dann beschwerte er sich bei seinem Chef darüber, das der Rattenfänger tatenlos im Dunkeln herumsaß und zuließ, dass man über ihn stolperte.

      »Hallo«, sagte er schwach in die Finsternis und verlor prompt die Zigarette aus dem Mundwinkel. »Nicht erschrecken, aber hier in der Ecke sitzt bereits jemand. Ein frischluftbedürftiger, bunter Geselle, der gelbe Schnabelschuhe trägt und geplagte Mütter und Väter von ihren Kindern befreit. Aber treten Sie näher, immer hereinspaziert in die gute Stube, obgleich hier eigentlich nur Zutritt fürs Personal ist. Aber was kümmert uns schon die verdammte Bürokratie. Leisten Sie mir Gesellschaft, beichten Sie Ihre Sünden, gestehen Sie die Leichen in Ihrem Keller. Wer Ratten fängt und Kinder entführt, besitzt auch die Lizenz zur Absolution.« Mein Gott, dachte er beeindruckt, du könntest dich glatt vom Galgen reden. Unauffällig schob er mit dem Fuß die Piccoloflasche gegen die Reling. Der Kerl durfte zwar alles hören aber keineswegs alles sehen.

      Im nächsten Moment blinzelte Dickie Blume gegen den gebündelten Strahl einer starken Taschenlampe an, der direkt auf sein Gesicht gerichtet war.

      »Hey«, protestierte er irritiert, »geht’s auch weniger grell? Ich bin’s nur, der Rattenfänger.« Keine Antwort. Dickies Frust wuchs, und seine Stimme klang plötzlich ausgesprochen scharf: »Sagen Sie mal, haben Sie Ihre Zunge verschluckt?« Er zog sich wütend an der Reling in die Höhe und registrierte, dass er nach wie vor den Packen Fotos aus dem Briefumschlag in der Hand hielt. Auf eben jene Hand aber konzentrierte sich kurz der Lichtstrahl, bevor er wieder hochzuckte und auf Dickies Gesicht zielte. Die Zeit reichte aus, Dickie das oberste Foto erkennen zu lassen, und sein Puls schoss in die Höhe.

      Ein kleiner Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, der nackt rücklings auf einem Schaffell lag und ein nackter Mann, der neben ihm kniete und ...

      »Scheiße«, murmelte er erschlagen, während sein Herz zu rasen begann und ihm übel wurde. »Verdammte, verfluchte Scheiße.«

      Der Schatten vor ihm kam näher, und Dickie wich instinktiv zurück. Nach einem Schritt setzte die Reling seinem Rückzug ein frühes Ende.

      »Hören Sie«, krächzte Dickie und streckte die Hand mit dem Päckchen aus. »Das gehört mir nicht, ich bin nur der Finder.« Er wies vage in Richtung Taurolle. »Ich weiß, wonach es aussieht, wenn man so was Schweinisches in Händen hält, aber ich schwöre beim Grab meiner Mutter, das sind nicht meine Fotos. Damit habe ich nichts zu tun, das kann ich wirklich und wahrhaftig beschwören. Und wenn ich wüsste, welchem skrupellosen Kinderverführer die Ware gehört, dann würde ich das Arschloch beim Kragen packen und schnurstracks zu den Bullen schleifen, das können Sie mir ... Ach, du Scheiße!«

      An dieser Stelle dämmerte ihm, dass es zurzeit vielleicht sein geringstes Problem war, selbst in Verdacht zu geraten. Was, wenn dem Typen vor ihm die Fotos gehörten? Welcher harmlose Banker trug auf einer Charterfahrt eine Taschenlampe in seiner Anzugjacke spazieren? Oder war es einer der Nautiker? Das Ding auf seinem Kopf hatte die Umrisse einer Uniformmütze. Und wieso redete er kein einziges Wort? Sein, Dickies, Hirn hatte in eine vollkommen falsche Richtung gedacht. Dabei war alles ganz einfach. Jemand hatte das Päckchen in der Taurolle hinterlegt, und der Kerl da vor ihm war gekommen, es abzuholen.

      »Ach wissen Sie, Sie dürfen natürlich das, was