»Meine Nachbarn mögen mich nicht. Sie bestrahlen mich.«
Ach du Schande, dachte sie erschrocken. Durchgeknallt.
»Und sie hören mich ab«
»Was? Warten Sie mal ...«
»Sie belauschen mich. Wenn ich Selbstgespräche halte, und sogar, wenn ich aufs Klo muss.«
»Herr ...« O mein Gott, wie war noch der Name gewesen? »Hajo, ich darf doch Hajo zu Ihnen sagen, ja? Jetzt hören Sie …«
»Sie hören mein Telefon ab, verstehen Sie. Sie haben sich in die Hausleitung eingeklinkt und hören zu, wenn ich telefoniere.«
»Hajo, Sie ...«
»Sie verfolgen mich, wenn ich rausgehe. Auf dem Fahrrad und zu Fuß. Eben konnte ich sie abhängen, in dem ich kreuz und quer durch die Seitenstraßen gefahren bin und mein Fahrrad ganz woanders abgestellt habe, verstehen Sie. Sonst folgen Sie mir immer, egal wohin ich fahre. Und ist das nicht komisch? Selbst, wenn ich Ihnen gleich zu Anfang entwischen kann, mit dem Fahrrad, meine ich, finden sie mich wieder. Sogar wenn ich nach Rinteln oder Bodenwerder fahre.«
Erst jetzt entdeckte Mellie die Fahrradklammer an seinem rechten Hosenbein.
Er schniefte und kramte ein löchriges Papiertaschentuch aus der Hosentasche, das wohl schon die eine oder andere Woche in Gebrauch war.
Klapsmühle, dachte sie geschockt. So ein armes Kerlchen.
»Okay, Hajo, lassen Sie uns mal sehen ...«
»Wenn ich meine Schuhe anziehe und meine Jacke und mit den Schlüsseln klappere, ich meine, bei mir im Flur, dann öffnet sich in der Wohnung unter mir schon das Klofenster, und wenn ich aus dem Haus komme, dann hängt sie oben über der Fensterbank und guckt auf mich runter und dann ...«
Er stockte.
»Und dann?«, hakte Mellie sanft nach. »Was tut sie dann? Und wer ist diese sie überhaupt?«
»Sie ist seine Frau. Rosenbuschs Frau. Sie sagt ihm die Richtung, in die ich gehe. Und er kommt dann aus dem Haus und schleicht mir nach. Beinahe jeden Tag. Wenn nicht er, dann folgen mir die anderen. Den ganzen Tag über. Egal, wohin ich gehe. Sogar, wenn ich nachts das Haus verlasse. Wer die sind, weiß ich nicht, aber es sind mehrere.« Hajo Claus sackte auf seinem Stuhl noch weiter in sich zusammen. Ein Häufchen Unglück auf zwei Beinen, die ihn offenbar kaum noch trugen. Mit einem Kopf, in dem das Wort Chaos eine neue Bedeutung bekam.
»Wer, Hajo? Wer folgt Ihnen?« Webdesign, dachte sie. Alles andere ist besser als dieser Job. Computer leiden nicht unter Verfolgungswahn.
Ihr Kunde hob mit großer Anstrengung sein Kinn. Aber er sah nicht sie an, sondern starrte an ihrem linken Ohr vorbei in die Zimmerecke. Dorthin, wo der zwei Meter hohe Ficus benjamini von Tag zu Tag kahler wurde.
»Mein Nachbar aus dem Haus«, flüsterte er. »Sage ich doch. Der unter mir wohnt. Herr Rosenbusch. Und Frau Rosenbusch hängt aus dem Klofenster und zeigt ihm die Richtung, in die ich gehe. Oder sie lauert mir auf der Treppe auf, oder unten beim Briefkasten, oder vorm Haus, und dann ... dann fragt sie mich, wo ich hin will. Auf der Straße folgen mir auch die anderen. Sie lösen sich ab, verstehen Sie? Sie sind perfekt organisiert. Ich weiß nicht, wie sie sich unterwegs verständigen. Per Handy vielleicht? Außerdem sind da noch die Autos ...« Er verstummte und schien nach Worten zu suchen.
»Die Autos?«
Hajo Claus nickte bedeutungsschwanger.
»Sie stehen am Radweg an strategisch günstigen Stellen, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin. Bin ich zu Fuß, parken sie einfach irgendwo am Straßenrand, und dann, wenn ich vorbeikomme, dann fängt wieder das Kribbeln an. Dann wird mir übel, und ich verliere ganz plötzlich das Gleichgewicht. Die Ohren sind zu, und dann fangen diese grässlichen Kopfschmerzen an. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Zu Hause kann ich nicht mehr lesen. Sie bestrahlen mich, verstehen Sie? Mit Hochfrequenz. Überall. Nicht nur zu Hause, sondern auch draußen. Sogar im Bus. Und nachts kommt dann die Wolke von unten. Oder besser der Strahl. Aus Rosenbuschs Wohnung. Wenn ich liege, fühlt es sich unter mir an wie sprudelndes Wasser. Als wenn man in einem Whirlpool mit dem Rücken vor der Düse sitzt. Nur ist es kein Wasser, sondern Energie. Eine sprudelnde Energiequelle, nur eine Handbreit im Durchmesser. Unter mir, wenn ich im Bett liege.«
Mellie schluckte und schwieg. Was gab es da noch zu sagen?
»Die bestrahlen mich, vielleicht sogar mit Strahlung im Mikrowellenbereich, verstehen Sie, weil ich dann doch immer das Gleichgewicht verliere. Und ich will wissen wer. Ich meine außer Rosenbuschs natürlich. Rosenbuschs Adresse kenne ich ja, aber wer sind die anderen? Wie heißen sie? Wo wohnen sie? Deshalb bin ich hier. Manchmal hupen sie auch, die Autofahrer, damit ich merke, dass sie mich aufgespürt haben. Die im Auto trauen sich so etwas. Die mir zu Fuß folgen, kriegen Schiss und laufen weg, wenn ich mich umdrehe und auf sie zugehe.«
Mellie atmete tief durch. »Was genau soll ich für Sie tun, Hajo? Was kann ich tun?«, stieß sie krächzend hervor, und ihre Stimme schwankte unsicher.
Er drehte den Kopf, starrte sie an und runzelte die Stirn. »Wie ich schon sagte: Ich will Namen. Namen und Adressen. Ich will wissen, wer mir folgt und wer mich bestrahlt. Außer Rosenbuschs, meine ich. Ich kann nicht mehr. Ich halte es nicht länger aus. Es muss aufhören. Ich kann nicht mehr schlafen, weil da diese Strahlenquelle nachts unter meinem Bett sprudelt. Mein Herz holpert. Meine Füße und Hände tun mir so furchtbar weh. Vor allem die Fußsohlen brennen ganz schrecklich. Die Füße und Hände sind voll mit kleinen, sich verzweigenden Nerven, wussten Sie das? Deshalb tun Verletzungen an Füßen und Händen besonders weh. Es ist auch nicht so, dass die Strahlung nur von unten kommt. Auch von den Seiten. Von draußen. Aus anderen Wohnungen. Wenn ich Namen und Adressen habe, dann kann ich etwas unternehmen, wissen Sie? Mir Hilfe holen und machen, dass es aufhört. Von Ihnen brauche ich nur die Namen und Adressen, weiter nichts.«
Mellie hielt es ebenfalls nicht länger aus und stieß mühsam hervor. »Ich sage Ihnen, was wir machen. Sie geben mir ihre Telefonnummer. Ich bespreche Ihren Fall mit meinen Kollegen, und vielleicht hat der eine oder andere eine Idee, wie wir Ihnen helfen können. Und bis dahin fahren Sie einfach wieder nach Hause und trinken eine schöne Tasse Tee.«
Nerventee. Oder Baldrian. Am besten ein Tranquilizer in hoher Dosierung.
»Ich wusste es. Sie glauben mir nicht. Sie denken doch nur, Herrgott noch mal, was ist der Kerl durchgeknallt.« Er sprang erstaunlich geschmeidig auf die Beine. Mellie fuhr ebenfalls hoch und trat hastig einen Schritt zurück, die großen grünen Augen weit aufgerissen.
Sein Benehmen war wie ausgewechselt, unverhohlene Wut verlieh ihm offenbar einen Energieschub, der die letzten Reserven aus seinem schmächtigen Körper zu holen schien. Er bebte am ganzen Leib, selbst sein Ziegenbart bebte. Was, wenn er sie angriff, dieser Verrückte? Doch er langte nur in seine Jacketttasche und zog eine verknitterte Visitenkarte heraus. »Hier, da steht alles drauf. Name, Telefonnummer, alles. Sie rufen mich an? Klar doch. Tut uns leid, Herr Claus, aber Verrückte verweisen wir grundsätzlich an die Landesklinik weiter. Toll und danke auch.« Er holte Luft. »Aber bitte, wenn Sie kein Geld verdienen wollen, ist das Ihre Sache. Und steht nicht auf Ihrer Website: Wir nehmen jeden Auftrag an? Bei uns sind Sie in den besten Händen? Himmel, wie konnte ich nur so blöd sein? Wenn ich übrigens höre, dass Teile dieses Gesprächs die Detektei verlassen haben, oder wenn der sozialpsychiatrische Dienst bei mir klingelt, verklage ich Sie.«
Ohne ein weiteres Wort fuhr er auf den Hacken herum und knallte die Haustür hinter sich zu, dass der Ficus in der Ecke sich weiterer Blätter entledigte.
Mellie sank in den Sessel zurück. Hatte sie diese brenzlige Situation nun brillant gemeistert oder nach Strich und Faden vermasselt? Sie wusste es selbst nicht, aber als sie in sich hineinhorchte, hörte sie eindeutig das Rumoren großen Unbehagens. Eins stand nun jedenfalls ohne Zweifel fest. Dieses