Rattenfänger war kein leichter Job und das lag nicht nur an den albernen Strumpfhosen, den Schnabelschuhen und der blöden Kappe, unter der seine Kopfhaut permanent juckte. Was ihn am meisten nervte, waren die miesen Bedingungen, unter denen er auftreten musste. Sobald ihn die Berliner Philharmoniker oder die New Yorker Sinfoniker als Klarinettisten einstellten, würde er den Job an den Nagel hängen, egal, ob sein Chef bei der Stadt auf die Knie fiel und ihn anflehte zu bleiben, weil er so herausragend war. Der geborene Entertainer, ein begnadeter Schauspieler, ein brillierender Musiker, und was seine architektonischen Kenntnisse und pädagogischen Fähigkeiten betrafen, musste er sich auch nicht gerade hinter der Tapete verstecken. Einen Moment lang hörte er in der Albert Hall den Applaus aufbranden, die Standing Ovations für den Paganini der Bläser.
Er lächelte seinem Ebenbild an der verspiegelten Wand hinter der Theke zu, während seine Finger geistesabwesend das kalte Metall der Klarinette streichelten, die vor ihm auf dem Tresen lag. Da stand er, Dickie Blume, und lächelte sich zu. Römisch irgendwie im Profil, mit seiner starken, gekrümmten Nase und den vollen Lippen, mit den pechschwarzen Haaren, den dunklen Augen und der olivfarbenen Haut. Die beiden, nicht eben kleinen, Leberflecken neben dem linken Mundwinkel und etwas höher neben dem Auge störten so gut wie gar nicht. Im Gegenteil, sie gaben seinem Gesicht eine interessante Note, der Frauen kaum zu widerstehen vermochten.
Klarinettist des Jahrhunderts, dachte er und atmete schwer. Albert Hall, Sydney Opera, Metropolitan Theatre. Natürlich musste er erst noch vorspielen und diese alberne Einstellungsbürokratie hinter sich bringen, aber dann, wenn er erst ein Star war ...
Ein Penthouse in Cannes, eine Jacht in Malibu, Urlaub auf den Kapverden, die Welt lag ihm zu Füßen. Er musste sich nur bücken. Morgen. Oder übermorgen. Erst einmal brauchte er etwas zu trinken, bevor er vollends austrocknete, ein Gedanke, der ihn flugs zurück in die Realität brachte. Getränke würden doch wohl im Buchungsvertrag enthalten sein, wenn schon kein Stuhl.
Ein Alster vielleicht. Nein, nichts mit Bier, ein Künstler, der aus dem Mund nach Bier stank, war allenfalls ein Klampfe spielender Bourgeois. Ein Straßenmusiker. Ein zweiter Klettenkönig. Behauptete Patty, seine Verlobte, und damit hatte sie ausnahmsweise mal recht.
»Wird abserviert, sobald ich meinen Vertrag mit den Philharmonikern unterschrieben habe«, murmelte Dickie. Eine Patrizia Müller passte einfach nicht zu einem Star, eher schon eine Thurn und Taxis oder ein Mädel aus dem Welfenhaus. Eine von und zu jedenfalls oder wenn sich nichts Ansehnliches unter dem Adel fand, tat es auch eine Hilton oder Gates. Ein Geld-Adel-Jet-Set-Mädel mit gewissen Gelüsten. Patrizia Müller war nichts als ein Stoffel vom Land, auch wenn sie sich Patty nannte. Puttchen Brammel eben.
Sollte er einen Apfelsaft trinken wie die Goldblonde, diese Dumpfbacke am Weibertisch? Igitt. Er legte die Unterarme auf die Theke und stützte sich schwer ab. Er war jetzt seit sechzehn Stunden auf den Beinen. Drei Stadtführungen am Vormittag, zwei am Nachmittag und jetzt die Charterfahrt. Während sich der hauptamtliche Rattenfänger auf einer Promotiontour durch Amerika mit Dagobert Duck fotografieren ließ, musste er schuften. Seine Füße brannten und die Banker hatten das verdammte Schiff bis ein Uhr nachts gebucht. Ihn auch. Er trug keine Armbanduhr, natürlich nicht in einem Kostüm aus dem dreizehnten Jahrhundert, aber bei einer vorübereilenden Serviceschnepfe erhaschte er einen Blick auf die Zeit.
Großer Gott, erst Viertel vor elf. Er blickte sich verzweifelt um. Keine Spur vom Klettenkönig. Entweder rauchte er draußen oder schleimte sich wieder bei den Bankern ein, denen er hinterherstürzte, sobald auch nur einer von ihnen den Salon verließ. Oder er legte unten in der Küche oder Kombüse, oder wie immer man das auf Schiffen nannte, die Pumphosenbeine hoch und spielte vor den Küchenschnepfen den großen Macker. Kein Ehrgeiz der Kerl und nicht einmal die Hälfte seiner Gage wert. Wie war Nimsch überhaupt an den Job gekommen, und wer hatte jemals von einer Märchenfigur gehört, die Klettenkönig hieß? Roland Nimsch, du lieber Himmel, den kannte er schon, seit er ein Knirps gewesen war, zumindest vom Sehen und Hörensagen. Ein Raufbold, ein Krimineller ohne Moral und Anstand. Mittlerweile war er mit seinen sechzig Jahren schon fast ein alter Herr und offenbar solide geworden. Aber damals, vor vielleicht fünfzehn Jahren, als er, hatte er eine ganze Zeit lang in der Fußgängerzone auf einer Pappe gesessen und gebettelt, von zwei schwarzen Dobermännern flankiert, sein Rattengesicht mit den kleinen dunklen Knopfaugen zu einer Grimasse verzogen, die er wohl für ein freundliches Grinsen hielt. Dickie konnte sich noch daran erinnern, dass damals Nimschs lange Stirnnarbe ganz frisch und noch blutrot gewesen war. Fingerdick, mit schwarzen Fäden genäht und so Angst einflößend, dass er das Bettelgeschäft schließlich aufgeben musste, weil es die Leute gruselte und sie einen großen Bogen um ihn schlugen. Bis heute kursierten haarsträubende Gerüchte über Roland Nimsch. Schlägereien, eine Messerstecherei in seiner Zeit als Rausschmeißer in einer Dorfdisco, zwei Jahre Santa Fu, dem Knast in Hamburg-Fuhlsbüttel, und was sich sonst noch so fand.
Einen Moment lang schoss es Dickie Blume durch den Kopf, dass auch er nur um Haaresbreite daran vorbeigeschrappt war, in die Kriminalität abzurutschen, aber dieses kurze Aufblitzen kritischer Selbsterkenntnis erlosch sofort wieder. Seine Situation war eine ganz andere gewesen. Kein Vergleich. Wirklich nicht. Den Klettenkönig jedenfalls spielte Nimsch, wie Dickie gerüchteweise gehört hatte, nur sporadisch, während Rattenfänger ein Vollzeitjob war, wenn auch nur zur Aushilfe, um die Arbeit für den Hauptamtlichen zu machen, der sich Gott weiß wo herumtrieb.
Körperlich und geistig ermattet beobachtete er die beiden Thekenschnepfen. Sie sahen gestresst aus, und die ungeduldigen Gäste vor dem Tresen wurden mit grimmigen Blicken abgefertigt. Der sympathische Kerl mit dem Toupet drängelte sich gerade vor. Sein Gesicht leuchtete so rot wie die Laterne vor einem Puff und glänzte wie eine polierte Tomate, während seine lebhaften Froschaugen, solange er auf sein Getränk wartete, auf Wanderschaft gingen. Als er zu ihm herüberblickte, hob Dickie die Hand zu einem müden Gruß, und der Kerl grinste plötzlich wie ein Honigkuchenpferd, während der Kopf zum Gegengruß heftig nickte. Wie hieß er doch noch gleich? Irgendein so ein Hundename. Lassie? Quatsch. Rintintin wohl ebenso wenig. Hasso! Ja, richtig Hasso Sowieso, an den Nachnamen erinnerte sich Dickie nicht mehr.
Eben bekam er seinen Longdrink – Whiskey mit Cola? – in die Hand gedrückt, und Dickie rückte an der Theke erwartungsvoll zur Seite, da drehte ihm der Kerl doch einfach den Rücken zu und wankte breitbeinig zu seinem Tisch zurück, wo er sich mit einem Seufzer zwischen dem trübsinnig blickenden Glatzkopf in der Admiralsjacke und dem Bankerchef im schwarzen Armanismoking auf einen Stuhl plumpsen ließ.
Das hell erleuchtete Schnellboot der Wasserschutzpolizei brauste an den Backbordfenstern vorbei, eine Frau mit langen blonden Haaren am Ruder, und die Libelle begann wild zu schaukeln. Dickie glaubte Heidi Klum erkannt zu haben und runzelte irritiert die Stirn. Seine Laune sank auf einen neuen Tiefpunkt, als er zu dem Tisch mit dem untreuen Toupet blickte und den bösen Blick des Bankerchefs auf sich gerichtet sah. Leck mich, du Wichser, dachte er verärgert und konzentrierte sich wieder auf die Thekenschnepfen. Sie beachteten ihn nicht, und als ihn dann doch plötzlich der Blick der kleinen Pummeligen traf, schrak er unwillkürlich zurück. Du lieber Himmel, wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt, in diesem Augenblick, von hundert Pfeilen durchbohrt, hintenüber gekippt. Wenn sie dem Stress nicht gewachsen war, dann sollte sie eben putzen gehen. Wie kam diese Schnepfe überhaupt dazu, ihn herumkommandieren zu wollen, wenn auch nur mit Blicken. Steh nicht so faul rum! Mach dich gefälligst auf deinen albernen Schnabelschuhen vom Acker und unterhalte die Gäste. Er war schließlich keins ihrer schwarz-weißen Gänschen, die eben jetzt mit vollen Tabletts in alle Richtungen davonstoben.
Du mich auch, dachte Dickie Blume empört und zwinkerte ihr lächelnd zu. Der eher farblose Typ Frau mit dünnen, glatten Haaren unbestimmter Farbe – aschblond oder schmutzig braun? - die strähnig und ungewaschen aussahen. Ein Vollmondgesicht mit mehr Sommersprossen, als der Nachthimmel Sterne hat, mit Pausbacken und zehn Kilo zu viel auf den Hüften von der täglichen Tafel Schokolade. Der Typ, der absichtlich nichts aus sich macht, damit ihm kein Schwanzwesen auf die Pelle rückt. Die Augen allerdings waren ein Hit: so leuchtend