Er hob das Schwert der Könige in die Höhe und betrachtete es von allen Seiten.
„Denkt an Ferendil und versucht, die Dinge in Fasolanda so zu regeln, dass diese Waffe keine blutigen Wunden mehr schlagen muss. Wenn euch dies gelänge, wäre das ein großartiger Sieg! Und jetzt geht! Ruht in den Türmen von Ildindor und brecht auf, sobald die Sonnen ihren Tanz beginnen! Und du, Gisandela, gib dem Schwert von Ildindor seinen Platz in der Halle der Ahnen zurück.“
Gisandela trat vor Hinanduas Thron und beugte ihr Knie. Er legte Ferendil zurück in ihre Hände und sagte leise, fast flüsternd: „Hoffen wir, dass wir mit diesem Schwert nicht noch einmal gegen den Feind ziehen müssen! Der letzte Krieg hat zu viele Leben gekostet!“
Damit löste Hinandua die Zusammenkunft des Rates auf. Gisandela nahm das Schwert der Könige an sich und verließ grußlos die Halle.
13 Die Türme von Ildindor
Nach dem Ende der Versammlung waren Cichianon und Doriando zügig ins Freie geeilt. Es war dunkel geworden. Die silbern leuchtende Mondscheibe stand über dem Horizont. Eine Marmortreppe führte sie aus der Senke heraus, fort von der Halle des Gildanmir. Als sie die letzten Stufen der Treppe erreicht hatten, sahen sie in der Ferne Ildindor, die alte Fürstenstadt der Elfen in strahlendem Glanz. Wo vorher bedrohlich dunkle, hohe Tannen sich spitz wie Speere in den Himmel gebohrt hatten, streckten sich jetzt hell erleuchtete, schlanke Türme zwischen den Bäumen in die Höhe.
„Bei allen Geistern der vier Elemente! Das ist Ithildim faelen. Ildindor, die Mondbeglänzte! Jetzt weiß ich endlich, was dieser Beiname bedeutet!“, sagte Cichianon, als er die Stadt aus der Ferne bewunderte, „das funkelt und strahlt, als hätte einer eine Schatztruhe geöffnet. Ich bin wirklich froh, dass ich das mal sehen darf!“
„…und ich bin froh, dass du nach dem ganzen Ratsgeschwafel wieder normal geworden bist! Ooooh Hinandua, mein weiser Lehrer!“, äffte Doriando Cichianon mit großer Theatergeste nach, „ich hatte schon befürchtet, dass du jetzt nur noch so geschwollenen Kram daherredest!“ Er boxte den Freund übermütig auf den Arm, warf seinen blonden Pferdeschwanz mit einer Hand über die Schulter, griff mit der anderen seinen Bogen. Dann nahm er drei Stufen auf einmal und rief Cichianon, der stehen geblieben war, zu: „Der weise Hinandua scheint mir ein wenig alt geworden! Er hat die Sache nicht mehr im Griff!“
„So dürfen wir nicht urteilen, Doriando“, antwortete Cichianon. „Vertraue ihm. Er weiß, was er tut und wann es Zeit ist, damit aufzuhören.“
„Ich hoffe, du hast recht und wir vertrauen dem Richtigen. Und jetzt lass´ uns endlich in die Stadt gehen und einen Platz zum Schlafen suchen, damit wir bei Sonnenaufgang nach Engil zurückreiten können! Ich fühle mich hier nicht besonders wohl. Zuviel Politik, Diplomatie und Intrigen!“
Cichianon hatte nicht mehr zugehört. Er stand auf der obersten Stufe der Marmortreppe und staunte mit großen Augen und offenem Mund das Wunder an, dass er soeben erblickte. Doriando blieb ebenfalls stehen. Er sah den Freund verständnislos an.
„Hey, was ist los mit dir? Das sind nur ein paar Lichter.“
„Sag´ mal, Doriando, hast du diese Türme sehen können, als wir hier angekommen sind?“
„Nein, aber du kannst sie gleich aus der Nähe sehen, wenn du mir jetzt endlich folgst. Diese Gebilde dort sind wie Sterne am Himmel. Im Dunklen kommen sie heraus. Das hat angeblich mit dem Staub zu tun, den Gildanmir aus dem Weltall mitgebracht hat. Als er auf die Erde gestürzt ist, hat sich das Zeug überall in der Umgebung verteilt, vor allem dort hinten im Wald. Im Sonnenlicht ist es unsichtbar, aber wenn es vom Mondlicht angestrahlt wird, beginnt es zu glitzern. Dann siehst du die Türme der Stadt zwischen den Bäumen. So habe ich es jedenfalls gehört!“
„Ja, ich kenne die Geschichte auch, aber man glaubt sie ja erst, wenn man es mit eigenen Augen sieht! Es ist großartig, nicht wahr? Ich frage mich nur, warum die Türme leuchten und nicht die Bäume ebenfalls? Die müssen doch den Sternenstaub auch abbekommen haben, oder? Vielleicht finden wir in der Stadt jemanden, der uns das erklären kann!“
Doriando hatte es eilig. „Komm´ jetzt, sonst geh´ ich alleine! Es wird immer später!“, sagte er und zog Cichianon vorwärts. Der folgte dem Freund widerstrebend. Sie ließen die Marmortreppe hinter sich und folgten einem schmalen Pfad, der sie zwischen niedrigem Buschwerk eine Strecke bergauf führte. Nachdem sie einige Wurzeln und Felsbrocken, die im Weg lagen, überwunden hatten, endete der Weg so plötzlich am Rande einer Schlucht, dass Cichianon in den Abgrund gerutscht wäre, hätte ihn nicht Doriando am Arm gepackt und festgehalten. Die Schlucht musste sehr tief sein. Jedenfalls war das Rauschen des Wasserfalls, der etliche Meter unter ihnen über die Felsen stürzte, von hier oben kaum zu hören. Nur gelegentlich wehte der Wind ein dumpfes Dröhnen zu ihnen hinauf. Eine hölzerne Hängebrücke, oder vielmehr das, was davon noch übrig war, führte auf die andere Seite.
„Zu weit, um unsere Flügel zu benutzen!“, stellte Doriando fest.
„Ja, viel zu gefährlich! Wenn uns auf dem Weg dorthin eine Windböe erfasst, sind wir weg. Ich wusste gar nicht, dass es in Adagio solche Schluchten gibt. Wir müssen wohl über diese Brücke gehen. Sehr vertrauenserweckend sieht das Bauwerk allerdings nicht aus!“
„Hat definitiv bessere Tage gesehen, aber es bleibt uns nichts anderes übrig.“
„Also los! Zumindest haben wir das Mondlicht!“
„Ja, einer der Vorteile von Ildindor!“
„Seien wir trotzdem vorsichtig!“
14 (13/2)
Doriando wagte den ersten Schritt. Zentimeterweise tasteten sie sich über die morschen, teilweise gebrochenen, alten Planken. Immer wieder knirschte und knackte es. Als sie einige Meter voran gekommen waren, schauten sie nach unten und sahen ins dunkle Nichts. Wieder hörten sie leise das Rauschen des Wassers in der Tiefe. Plötzlich hielt Doriando inne.
„Sag mal, jetzt, wo wir unter uns sind: was hältst du von Gisandela?“
„Ein seltsamer Ort für ein solches Gespräch“, rief Cichianon gegen den Wind. „aber ich denke auch schon einige Zeit darüber nach. Sie ist gefährlich!“
„Glaubst du, sie hat etwas vor?“
„Sie war auf keinen Fall einverstanden mit der Entscheidung des Rates“, antwortete Cichianon. „Sie wird alles daransetzen, ihre Kriegspläne durchzuführen.“
„Und sie hat einige Befürworter im Rat!“
„Ja, ich denke, wenn Hinandua nicht eingeschritten wäre, hätten wir einen anderen Auftrag erhalten!“
„Das glaube ich auch! Noch kontrolliert er die Sache, aber wer weiß, wie lange sie ihm noch folgen?!“
„Jedenfalls war Gisandela sehr aufgebracht, als sie die Halle verlassen hat.“
„Was denkst du, wird sie tun?“
„Nun, auch Gisandela kann Beschlüsse des Rates nicht einfach ignorieren. Ich denke, sie wird versuchen, im Hintergrund an ein paar Fäden zu ziehen, um unseren Auftrag in ihre Richtung zu verändern. Vielleicht wird sie auch selbst losschlagen, wenn sie sich stark genug fühlt.“
„Wie auch immer, wir müssen sie im Auge behalten!“
„Ja! Das müssen wir! Und